Grenzgänger
Industriegebiet. Ich hatte Wald und Gras gerochen, weil ich mittendrin stand. Genauer gesagt auf einer Lichtung in strahlendem Sonnenschein. Selbst der obligatorische Bach fehlte nicht.
Mir stand der Mund offen.
»Das ist mein Garten, hier wird uns niemand hören«, erklärte Kay nahe an meinem Ohr, und ich zuckte zusammen, als ich seine Lippen plötzlich so nah an meiner Haut spürte.
»Nett«, brachte ich schließlich heraus. Kay schmunzelte.
Fengs Grinsen wurde breiter. »Das ist die Fey-Variante eines Schrebergartens.«
»Es ist eher eine Art persönliches Refugium «, erwiderte Kay.
Ich musterte ihn. Nicht nur die Umgebung hatte sich verändert. Kays Miene war weicher geworden. Die Wangenknochen höher, die Augen waren etwas größer, dass Grün der Augen dunkler. Ich konnte mich gar nicht mehr von seinem Anblick lösen und bemerkte in seiner Iris kleine goldene Flecken. Seine Ohren hatten einen anmutigen Schwung erhalten, und die Spitzen ragten zwischen den fließenden Haarsträhnen hervor.
Mir brach es fast das Herz, ihn nur anzusehen. Ich musste mich zusammenreißen, um diesen Mann nicht zu berühren. Aber warum eigentlich? Warum sollte ich ihn nicht küssen? Nur einen Kuss.
»Kay, stell das ab. Sie ist sterblich«, fauchte Feng und riss mich damit aus meiner Faszination.
Ich blinzelte und wandte mühsam den Blick ab. Kay lachte. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können, wenn er so lachte.
»Verzeihung, ich vergaß«, lächelte er und augenblicklich sah er wieder so aus, wie ich ihn kennengelernt hatte. Attraktiv, ja. Aber nicht mehr so betörend, dass ich vergaß, wer ich war oder wie ich hieß.
Feng wirkte verärgert.
»Also, was hat dir der tote Kappa erzählt?«, fragte ich hastig.
»Ich habe mich mit seiner Erinnerung unterhalten. Mit Toten zu sprechen, ist unmöglich.« Kay wirkte nun wieder wesentlich ernster, aber nicht wirklich betroffen. »Ich habe ihn über seinen Tod befragt. Er war gewaltsam, wirkte aber nicht so, als wäre es mit Planung geschehen.«
»Affekt.«
»Ja.«
Ich nickte und rieb mir über den Nacken. »Und wie sollen wir etwas über den Mörder herausfinden? Ich bin weder Detektiv noch Polizistin und weiß nicht, wie es bei euch aussieht.«
»Wir haben eigene Methoden. Knifflig wird es trotz allem. Deswegen möchte ich dich bitten, ins Büro zurückzufahren«, sagte Feng.
»Und was soll ich da tun?«
»Recherchieren. So war es doch vereinbart.«
Ich nickte. »Wonach genau?«
Feng wühlte in der Hintertasche seiner Jeans herum und reichte mir einen Zettel. »Da sind einige Internetadressen, auf denen du in Deutschland anwesende Grenzgängern oder Fey suchen kannst. Versuch unseren Kappa zu finden und so viel Informationen über ihn herauszubekommen, wie möglich.«
Ich nahm den Zettel entgegen. Das Einzige, was ich darauf lesen konnte, war http und die Querstriche, die eine Internetadresse anzeigten. Alles andere waren Schriftzeichen, die ich im Leben noch nicht gesehen hatte.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Dein Schlüssel.« Er deutete auf den Zettel in meiner Hand.
Feng nickte mir zu. Der Wald um mich herum schmolz, das Licht verblasste, die Wärme schwand.
Kay zog sich seinen Mantel zurecht. »Wir kommen später noch einmal ins Büro. Bei Anrufen oder Klienten sag ihnen, dass sie eine Nachricht hinterlassen sollen.«
»Ja, aber …«
»Du machst das schon…« Er nickte mir zu und auf seinen schönen Zügen spiegelte sich Zuversicht. Er winkte und ging zu seinem Wagen. Feng verabschiedete sich mit einem weiteren Nicken und folgte Kay.
Ich blieb mit einem Zettel voller unentzifferbarer Zeichen und der Gewissheit zurück, dass ich jetzt offiziell die Tippse im wohl verrücktesten Büro dieser Erde war.
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Kapitel 8
Die Disco »Sheol« war am frühen Nachmittag wie ausgestorben. Der Schutzzauber, der darauf lag, war nicht funktionstüchtig, wenn der Ladeninhaber, ein Djinn, nicht anwesend war. Der Krieg zwischen den Mischwesen und den Naturgeistern hatte sich hauptsächlich auf die europäischen Länder konzentriert, aber mit einer Heftigkeit gewütet, die ausreichte, um ganze Familien auszurotten.
Viele Naturgeister, Fabelwesen und andere Gestalten waren aus Asien nach Europa gekommen, nachdem der Krieg beendet worden war. Clubs wie dieser, waren lukrative Geschäfte, weil die jüngeren Generationen der Fey und Grenzgänger gern mit den Vorurteilen und Abneigungen der Älteren spielten.
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