Grenzgänger
Kay setzte sich an ihre Seite.
»Entschuldigen Sie«, murmelte Agnes und wischte sich über die Schläfen.
»Ich wollte mich auch eher entschuldigen, weil ich Ihnen heute Morgen nicht Bescheid gesagt habe«, fuhr sie fort und stand auf, um sich von einer Küchenrolle eine Blatt abzureißen.
»Was ist heute Morgen passiert?«, hakte er nach.
»Heute Morgen lag das Schlafzimmer in Fetzen. Und hier«, sie schob die Ärmel ihres Pullovers hoch und Kay sah notdürftig verarztete Schnitte auf ihren weißen Armen. Er drückte sanft ihren Arm auf den Küchentisch und strich an den roten Wundmalen entlang. Agnes sagte nichts, aber er spürte ihr Zusammenzucken.
»Sie haben sich nicht selbst im Schlaf gekratzt?«
Agnes schüttelte den Kopf, anstatt wütend über die Unterstellung zu sein.
Kay seufzte. »Es tut mir Leid. Bisher wirkte er recht harmlos. Ich war unvorsichtig.«
Sie schob den Ärmel höher. »Wird er wiederkommen?«
»Ich weiß es nicht.« Kay sah noch immer auf ihre Arme. »Haben Sie ihn diesmal deutlicher sehen können? Solche Kratzer und Schnitte muss man doch spüren.«
»Ich wachte erst auf, als er mich kratzte. Mehr gesehen als sonst hab ich nicht, nur diesen Schatten neben meinem Bett. Aber diesmal …« Sie stockte und schloss die Augen.
»Diesmal?«
»Hat er gezischt. Es klang wütend, wie eine aufgebrachte Schlange.«
Kay rieb sich über die Stirn. Wahrscheinlich war der Angreifer wegen des Netzes wütend gewesen. Was er aber nicht verstand war, warum er Agnes derart in Angst versetzte, ihr aber nichts tat. Warum tötete er sie nicht, dafür den Kappa?
Kay stand auf. »Kommen Sie einen Augenblick allein zurecht?«
Agnes nickte. Kay ging ins Schlafzimmer, wo Feng dabei war, sich das Fenster näher anzusehen. Es war geschlossen und die Vorhänge davor zerrissen. Sie hingen in Fetzen an der Gardinenstange.
»Ist sonst noch etwas kaputt?«
Feng deutete auf das Bettende. Das dunkle Holz hatte helle Kratzer. Sie sahen ähnlich aus, wie die an Agnes Armen.
»Was soll das?«, fragte Kay. Er fühlte sich ratlos und seine Gedanken direkt auszusprechen half ihm dabei, sie zu ordnen.
Feng derweil verzog den Mund. »Wenn ich das wüsste, würden wir hier nicht wie Idioten rumstehen.«
»In einem Schlafzimmer.« Kay hatte nicht viel übrig für solche Andeutungen.
»Dem Schlafzimmer einer attraktiven Frau.« Feng grinste breit.
»Oh, bitte«, schnaubte Kay.
Mit einem leisen Schmunzeln auf den Lippen ging Feng zur Tür und schloss sie. »Dann mach dich mal an die Arbeit, Kay von Fernden«, sagte er und lehnte sich an die Tür. Da sie nach innen aufging, würde Agnes sie nicht öffnen können und Kay konnte ungestört arbeiten.
Es begann wie schon am Abend zuvor, als er die Magie heraufbeschworen hatte. Die Wärme, das Licht, sein eigenes verändertes Aussehen. Diesmal stoppte die Helligkeit aber nicht und verblasste wieder, sondern intensivierte sich.
Als Kay kurz zur Seite sah, bemerkte er, dass Feng die Augen geschlossen hielt. Er selbst konnte bald auch nichts mehr sehen, nur noch das Gleißen der Magie spüren, die um ihn herum immer weiter aufblühte. Er sprach einen weiteren Zauberspruch, aber das Licht schluckte nicht nur jeden Schatten und jedes Quäntchen Dunkelheit, sondern auch jedes Geräusch.
Plötzlich wurde es dunkel und Kay dachte einen Moment lang, dass er die Augen geschlossen hatte. Tatsächlich aber hatte nur das Licht aufgehört zu glühen. Nur langsam schälten sich aus der diffusen Dunkelheit wieder vertraute Umrisse und Konturen.
Kay lehnte an der Wand und Feng kam näher. Der Fey schluckte hart und fuhr sich über Augen und Stirn; sie war schweißnass. Seine Knie waren weich, aber er versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Magie in dieser Welt zu beschwören, kostete ihn jedes Mal Unmengen an Kraft.
»Das sieht aber nicht nach deiner üblichen Masche aus«, brummte Feng.
»War es auch nicht. Der Zauber wurde nicht einfach nur zerrissen. Jemand hat sich die Mühe gemacht, ihn vollkommen zu zerstören. Er ist weg.«
»Also auch die Spur?«
Kay nickte schwach. »Auch die Spur.«
»Verdammt.«
»Es war wieder da, nicht wahr?« Agnes war sehr leise hereingekommen. Keiner der beiden Männer hatte sie bemerkt. »Das Licht, meine ich.«
Kay rieb sich den Schweiß fort. »Haben sie vielleicht ein Glas Wasser?«
»Natürlich. Aber ich habe auch Kaffee aufgesetzt. Falls Ihnen das lieber ist.«
Bevor Kay antworten konnte, hatte Feng ihn in den Flur gezogen.
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