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Grenzgänger

Grenzgänger

Titel: Grenzgänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Behrmann
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das Skelett nicht im Mindesten verhüllte. Es war ein Leichnam. Das war zumindest Fengs erster Gedanke, ehe er das schwache Schlagen des Herzens unter den Brustknochen sah. Die Haut war so weit herabgesunken, dass sie auf dem Organ auflag. Er würgte, als er bemerkte, dass sie sich im Takt des Organs bewegte. Auch die Augen waren noch lebendig und glühten mit solchem Irrsinn, solchem Hass, dass selbst Feng einen Schritt zurückwich.
    »Sieh dir seine Finger an«, sagte Kay kalt. Feng wusste, dass es Kays Art war mit diesen Dingen fertig zu werden, dennoch spürte er das erste Mal Unwillen aufflammen. Die Zähne hinter den vertrockneten Lippen machten das Wesen eindeutig zum Vampir, zum Grenzgänger. Er sah auf die Finger. Die Spitzen bestanden nur noch aus blanken Knochen. Die Pergamenthaut darüber war aufgeplatzt, die Fingernägel abgesplittert oder nach hinten verbogen.
    Sein Blick fiel auf das Loch in der Wand. Graue Fetzen eines alten Bannzaubers wehten daraus hervor. Dieser Vampir hatte wohl Jahre in diesem steinernen Gefängnis verbracht und sich die Finger abgeschabt, als er verzweifelt an der Wand gekratzt hatte. Vampire starben nicht, wenn sie kein Blut bekamen, wusste Feng. Aber der Organismus brauchte Blut, um sich erhalten zu können. Bekam er das nicht, begann er sich an den eigenen Reserven zu bedienen. Gleichzeitig regenerierte er sich aber in den nötigsten Punkten. Das hieß also ein Teufelskreis aus Kannibalismus und Heilung für einen eingesperrten Vampir. Deswegen war die Einmauerung eine beliebte Methode der Fey während des Krieges gewesen, um die unsterblichen Vampire aus dem Verkehr zu ziehen und zu verunsichern. Es war ihnen auch gelungen.
    Feng verstand, warum Feline so aufgebracht war, auch wenn die Frage offen stand, woher sie davon gewusst hatte.
    Feng wandte sich von dem krächzenden Ding auf Felines Bett ab und kämpfte die alten Vorurteile nieder. Schließlich war es seine Aufgabe, dass sie nicht mehr auftauchten, auch nicht in ihm selbst.
    Kay ging auf den Flur, wo Feline noch immer stand, den Fremden neben sich. »Wie hast du ihn gefunden?«
    »Sie hat einen Hausgeist ihrer Mutter hier. Er hat ihn ihr gezeigt«, sagte der Mann an Felines Seite.
    »Und du bist?«
    »Samhiel.«
    Kay nickte. Dann wandte er sich wieder an Feline. »Das ist…«
    »Grausam! Es ist widerwärtig und grausam!« In ihren blauen Augen schimmerte es verdächtig. »Wie kann irgendjemand irgendwem nur so etwas antun? Er hat Jahrzehnte darin gesessen, Kay! Jahrzehnte! Und dabei gekratzt, geschrien, geklopft – niemand hat ihn gehört oder ihn hören wollen. Wenn ich mich nicht entschieden hätte, mein Schlafzimmer ausgerechnet dorthin zu legen…« Sie brach ab.
    Kay spürte, wie seine sorgsam aufrecht erhaltene Ruhe langsam brach. Ein Kind stand vor ihm, ein kleines Kind, das nicht einmal ein ganzes Leben hinter sich gebracht hatte und wagte es tatsächlich, ihn anzuklagen, als hätte es den Krieg gesehen. »Hast du gedacht, wir spielen hier? Dass das, was Feng und ich tun nur ein lustiger Zeitvertreib ist?« Er schüttelte den Kopf, als wolle er seine Frage selbst beantworten. »In den Kriegen haben diejenigen überlebt, die am grausamsten waren. Die es am geschicktesten verstanden, ihre Gegner zu täuschen, zu quälen und zu töten. Es war ein Krieg und er dauerte Jahrhunderte. So etwas darf nicht noch einmal geschehen. Sonst werden noch mehr arme Teufel, wie er hier in Mauern landen; dann werden noch mehr Kinder im Bauch ihrer Mutter erstochen oder mit einem Bannzauber auf ewig darin versiegelt werden. Noch mehr Elfenfrauen mit toten Kindern in ihrem Körper, die sie Jahr um Jahr mit sich herumtragen müssen. Das darf nicht mehr geschehen!«
    Feline starrte Kay an. Feng, der inzwischen wieder bei ihnen stand, tat es auch. Nur Samhiel wirkte ruhig. Kay atmete sorgsam ein und wieder aus, um sein Gemüt zu beruhigen. Er wusste, dass die Luft um ihn herum bedrohlich knisterte und bemühte sich doppelt so schnell, seine Fassung wieder zu erlangen. Aber dieser Anblick… er brachte alles zurück. Und das war etwas, was er nur schlecht verkraften konnte.
    »Ich weiß um die Sünden, die wir alle begangen haben«, fuhr Kay leiser fort. »Und genau deshalb tue ich das hier. Damit wir dieses Spiel nicht weiter treiben. Damit wir damit abschließen können.«
    Feline senkte den Blick. »Ich…«
    »Nein.« Kay schnitt ihr das Wort ab, ehe sie weitersprechen konnte. Feline zuckte zusammen.
    Kay drehte sich zu Feng um.

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