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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Müdigkeit und die Schwere ihrer Augenlider. Es kann nicht sein, dass ihre eigenen Sorgen sie derart abhalten von der Erfüllung ihrer erzieherischen Pflichten!
    »Also?«
    »Hast du was getrunken im Bad?«, fragt er. »Du sprichst so komisch.«
    »Lenk nicht ab und sei nicht so frech. Du schuldest mir eine Erklärung.«
    »Ich war bei Endlers und hab mich entschuldigt. Ende.«
    »Ende. Du glaubst, so einfach ist das?« Sie blinzelt inRichtung ihres Sohnes, dessen Augen suchend erst über den Wohnzimmertisch gleiten, dann zum Bord mit dem Fernseher. Wird er auch einmal so ein … Was ist das Wort? So einer, in den man sich als junge Frau voller Idealismus verliebt und ihm dann treu bleibt, ohne zu merken, dass man mit dieser Treue zusehends alleine dasteht. Bis man schließlich keine junge Frau mehr ist oder zumindest nicht mehr die jüngste im Ort. Wird Daniel einmal so einer werden? Und steht es noch in ihrer Macht, das zu verhindern? So naiv es klingt, aber sie hat immer geglaubt, dass ein Kind, das unter den Strahlen ihrer Liebe aufwächst, nicht missraten kann. Dass ihr Sohn zwar Pech haben, unglücklich werden, verzweifeln oder sogar jung sterben, aber nicht zu einem unaufrichtigen Menschen werden kann.
    Daniels Blick begegnet ihr, ungerührt und fern. Als müsste er schon einmal üben für all die Frauen, die er künftig unglücklich machen wird. Ist sie genau genommen nicht bereits sein erstes Opfer?
    »Killer, alle miteinander.« Ihre Zunge fühlt sich seltsam schwer an.
    »Geh ins Bett, Mama.«
    Sie und Heerscharen anderer Frauen, verschwenden sie nicht mehr Lebensenergie, an das Märchen von der heilenden Kraft ihrer Liebe zu glauben, als das Einsehen der Wahrheit je kosten würde? Zum Teufel damit! Zum Teufel mit Weidmann und seiner Geduld, sie wird mit Karin Preiss in diesen Club fahren und sich dem erstbesten Mann hingeben, der die Hand nach ihr ausstreckt.
    Kraftlos kippen ihre Knie zur Seite. Vielleicht träumt sie schon. Sie nimmt sich vor, Weidmann zu fragen, wie er darüber denkt. Der macht keinen gefährlichen Eindruck, sondern gehört zu der Kategorie von Männern, die sie immer am attraktivsten gefunden hat (Ehepartner, weiß auch die Brigitte , sind da nicht unbedingt repräsentativ): solide, geerdet, die Kanten abgeschliffen und irgendwo im Mundwinkel die Andeutung eines geheimen zweiten Gesichts. Ein Blumenbringer.
    Daniel zieht sie am Arm.
    »Auf, ich helf dir.«
    Sie kann sich nicht erinnern, dass eine einzige Schlaftablette sie jemals mit einer solchen Wucht niedergestreckt hat, aber genau genommen kann sie sich an gar nichts erinnern in diesem Moment. Immer wieder sackt ihr Bewusstsein hinter die Bewusstseinsgrenze zurück, und sie fühlt die Sitzfläche des Sofas wie einen warmen Sog unter sich.
    Daniel zieht erneut.
    »Ich komm schon«, murmelt sie. »Jetzt, wo ich wehrlos am Boden liege, hat sogar mein Sohn Erbarmen mit mir.«
    »Komm jetzt.«
    »Trödel nicht so, hast du früher immer gesagt. Warum trödelst du immer so.« Mit seiner Hilfe schafft sie es aufzustehen. Für ein paar Sekunden lichtet sich der schwarze Vorhang vor ihren Augen. Sie legt ihm einen Arm um die Schultern und freut sich, dass er größer ist als sie, fast einen ganzen Kopf. Wer braucht schon kleine Männer? Seine Hand legt sich um ihre Taille, und als sie die Augen wieder öffnet, begegnet ihr ein mürrisch besorgter Blick: »Du hast meine Augen, mein Sohn, aber nicht meinen freundlichen Blick.« Sie muss sich drehen, um ihm nicht ins Gesicht zu atmen. »Lächel mal.«
    Er fletscht die Zähne, und sie schließt die Augen und denkt: Sechzehn. Männer ihres Alters sind in der Lage, Frauen seines Alters – also Mädchen – zu begehren, handfest und wirklich zu begehren. Was für eine merkwürdige Welt ist das? Sie setzt einen Fuß vor den anderen und schauspielert jetzt ein wenig, aber erstens ist das ihr gutes Recht und zweitens die einzige Möglichkeit, nicht dem Drang nachzugeben, sich augenblicklich auf dem Teppichboden zusammenzurollen wie eine fette Katze.
    Er bleibt stehen, wendet den Kopf und sagt:
    »Tor.«
    »Wer hat’s geschossen?«
    »Neuville.«
    Auf dem Bildschirm türmen sich Spieler in weißen Trikotsauf dem Boden, dann schließt sie die Augen erneut und lässt sich durch die Diele eskortieren. Daniel will sie vor der Badezimmertür abstellen, aber sie schüttelt den Kopf.
    »Weißt du eigentlich, ob’s ein Junge oder Mädchen wird? Da am Hainköppel.«
    »Nein. Interessiert mich auch

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