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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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legt. Vor einer verspiegelten Theke, belagert von halb bekleideten Männern und Frauen, die einander taxieren und zuzwinkern und irgendwann aufeinander zugehen und …
    Du meinst das nicht ernst, hat sie am Telefon anstatt eines Nein gesagt.
    Nur gucken und ein bisschen die Luft des Verruchten schnuppern. Die gespielte Naivität von Karin Preiss’ Antwort hat sie aufgebracht, amüsiert und gleichzeitig auf merkwürdigeWeise beruhigt. Vielleicht gibt es einen Weg, der eigenen Neugierde zu folgen, ohne sich dem schmierigen Milieu provinzieller Lustoasen ganz und gar auszuliefern. Vielleicht besteht die Möglichkeit, an einem Samstagabend, an dem sich Bergenstadt den Grenzgangsvorbereitungen hingibt, für eine Stunde oder zwei die Leute anzuschauen, die sich an einem solchen Ort treffen. In Köln hat sie einmal mit Anita eine Party besucht, da kamen aus einem der Zimmer auch eindeutige Geräusche, und niemand hat sich daran gestört.
    Mit dem, was sie als Nächstes sagt, überrascht Kerstin sich selbst:
    »Die 170 Euro für Frau Kolbe würden jedenfalls von der Pflegekasse übernommen, auch schon bei Pflegestufe 1. Steht ja hier: ›Wenn Pflegebedürftige ihre Pflege von Mitarbeitern ambulanter Pflegedienste durchführen lassen, erstattet die Pflegekasse die Aufwendungen als Sachleistungen.‹ Und da stünden uns 384 Euro zur Verfügung.«
    »Onkel Hans würde sagen: Vergebliche Liebesmüh’.« Immer noch tasten Daniels Finger die Unebenheiten seiner Kinnpartie ab, ansonsten sitzt er reglos im Sessel, breitbeinig wie sein Vater. In Dortmund ist Halbzeit. Mit ratlosen Mienen trotten die Mannschaften Richtung Kabinen.
    »Onkel Hans will bloß nicht einsehen, wie krank seine Mutter ist.«
    »Er ist Arzt. Und als solcher will er das Beste für alle.«
    »Doktor Petermann hat gesagt, Stufe I kriegen wir auf jeden Fall, egal was bei diesem CT rauskommt. Wir stellen den Antrag, und die Kasse schickt jemanden vorbei, der sich Oma anguckt. Schlimmstenfalls bleibt alles beim Alten, jedenfalls bis ich nächstes Jahr unter die Lahnbrücke ziehe, aber du hast es selbst gesagt: Sie ist pflegebedürftig.« Sie faltet das Infoblatt zusammen und fächelt sich Luft zu. Wie üblich reagiert Daniel nicht auf ihre Anspielungen. Der Abend ist immer noch warm und die von draußen hereinwehende Brise schwanger mit irgendwas, das Kerstin nicht in Worte fassen kann, nur in dieAhnung, dass sich ohne Zypiklon kein Schlaf einstellen wird in dieser Nacht.
    Was hätte sie Karin Preiss sagen sollen?
    Im Bad geht noch einmal die Klospülung, und kurz darauf kommt ihre erheblich bis schwer pflegebedürftige Mutter durch die Diele geschlurft. Fast die komplette erste Halbzeit hat sie im Bad verbracht. Ist das nur ihre altersbedingte Langsamkeit, oder hat sie wieder heimlich ihre Unterwäsche gewaschen, weil die nächtliche Inkontinenz so stark geworden ist, dass auch Slipeinlagen nicht mehr helfen? Hat sie sich wieder übergeben müssen? Das passiert in letzter Zeit immer häufiger, aber vielleicht hat es damit zu tun, dass ihre Mutter eigenmächtig im Bad nach Tabletten sucht, wenn ihre Kopfschmerzen zu stark werden. Die zwölf Aspirin, die Kerstin ihr auf den Nachttisch gelegt hat, waren binnen dreier Tage weg. Mit geschlossenen Augen verfolgt sie das Geräusch der Schuhe in der Diele und öffnet sie erst wieder, als das Quietschen in der offenen Wohnzimmertür verstummt. Sie ist nicht mal sicher, ob ihre Mutter nicht heimlich ihre Corega-Tabs kaut, jedenfalls geht der Vorrat auch schon wieder zur Neige.
    Wie eine Empfangsdame knipst sie ihr Lächeln an, bevor sie den Kopf wendet.
    Ihre Mutter trägt den alten, bis auf die Füße fallenden Bademantel, hält ihren Zahnputzbecher in der Hand und spricht mit der vernuschelten Stimme der Gebisslosen:
    »So, dann will ich mal, ja.«
    »Gute Nacht, Mutter. Schlaf gut.«
    »Nacht«, sagt Daniel und hebt eine Hand, dreht sich aber nicht um, sondern folgt Günther Netzers pantomimischen Spielanalysen.
    Ihre Mutter steht in der Tür.
    »Ja. Und der Daniel will wohl nicht ins Bett?«
    Daniel verzieht keine Miene. Kerstin liest den Satz ›Anders verhält es sich, wenn beispielsweise Familienmitglieder oder Bekannte die Pflege ausüben. Sie erhalten ein entsprechendes Pflegegeld.‹
    »Hast du noch Wasser in deinem Zimmer?«, fragt sie. »Soll ich dir eine Flasche bringen?«
    »Sind die Fenster alle zu?«
    »Ja. Gute Nacht.«
    »Und der Daniel …« Verzieht jetzt doch eine Miene. Kerstin steht auf und macht

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