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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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habe. Interessierte sich nicht dafür, wusste auch nicht, welche Bemerkung gemeint war, atmete nur Veilchenduft und hörte seiner Stimme zu. Jedenfalls gehe er nun davon aus, dass der Bote keine Schulinterna zu drucken beabsichtige. Der alte Ludwig Benner habe das auf Nachfrage ganz ähnlich gesehen.
    Ja, doch. Ja, doch.
    – Das wollte ich Ihnen nur sagen.
    – Ich bin Ihnen sehr dankbar. … für die Veilchen.
    – Geht’s Daniel besser?
    – Schwer zu sagen. Ein bisschen, ja. … und mir übrigens auch.
    Seine Stimme hat diesen ehrlich besorgten und trotzdem ruhigen Klang, so als würde er Schlimmes erwarten, aber nicht fürchten, und zum ersten Mal kommen ihr seine Nachfragen nicht wie Einmischungen vor. Auch Pausen im Gespräch scheinen ihn nicht zu irritieren, er wechselt kurz das Thema, um eine Bemerkung über die vielen Deutschlandfahnen zu machen, die man seit WM-Beginn überall an Autoantennen und Balkongeländern sieht, und will dann wissen, ob es schwierig für sie ist, zum Elternsprechtag zu kommen, wegen ihrer Mutter.
    Die Blumen, denkt sie. Die Blumen!
    – Sie könnten mich sonst kurz auf dem Handy anrufen, dann sag ich Ihnen, wie groß der Andrang ist.
    – Meine Mutter kann ein paar Stunden alleine bleiben, das geht schon. Das muss gehen. Wir könnten uns doch mal auf ein Glas Wein treffen.
    Seine Geduld ist mörderisch! Weiß er gar nicht, dass jeder Gedanke, den sie seit dem Morgen denkt, einem aus dem Nest gefallenen Küken ähnelt: schutzlos einer Umwelt ausgeliefert, die ihm nach dem Leben trachtet. Bergenstadt ist kein Ort für Romanzen. Und sowieso: keine Luftschlösser auf dem Boden der Tatsachen! Den ganzen Tag hat sie sich das wieder und wieder gesagt: Daniel werden die Haare zu Berge stehen, und ihrer Mutter einen fremden Mann vorzustellen, der neben ihr am Frühstückstisch Platz nimmt, kommt überhaupt nicht in Frage. Alles, die ganze Sache, ist gänzlich ausgeschlossen, darin liegt ihre Poesie und ihr Reiz. Das Problem indessen liegt in ihrer eigenen Sehnsucht, denn die wird größer mit jedem Tag.
    – Dann sehen wir uns also am Elternsprechtag. Oh, er versteht es, seine Pausen so zu setzen, dass mögliche Alternativen in die Zwischenräume einsickern können und man beim Auflegen weiß, was einem gerade entgangen ist. Morgens legt er ihr Blumen vor die Tür, und am Abend ruft er sie an – und sagt kein Wort! Ein leichtes Vorgefühl von Müdigkeit macht sich in Kerstin breit, als sie sich die Schläfen mit kaltem Wasser benetzt und dann zurück ins Wohnzimmer geht. Im Lauf des Tages hat sie beschlossen: Wenn Weidmann bis zum übernächsten Samstag nicht anruft und sie einlädt zum Essen oder Spazierengehen, dann wird sie mit Karin Preiss in diesen Club fahren. Wenn doch, sagt sie ihr ab. Mit anderen Worten: Es ist seine Entscheidung. Sie wird ihn nicht anrufen.
    Jürgen Klinsmann sieht auch ziemlich mitgenommen aus.
    »Immer noch null, null?«
    »Es ist an Dramatik nicht zu überbieten.« So lahm sagt er das wie einen auswendig gelernten Satz.
    »Nur Daniel Bamberger bleibt gelassen.«
    »Einer muss ja Ruhe bewahren.«
    »Wenn es null, null bleibt, fliegen wir dann raus?«
    »Sag nicht immer ›wir‹! Das sind irgendwelche Fußballprofis, untergebildet und überbezahlt, das sind nicht wir.«
    »Wie war’s bei den Rheinstraßen-Burschen am Wochenende?« Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, ihren Sohn dazu zu bringen, einmal mehr als zwei Sätze am Stück mit ihr zu reden.
    »Gut. Wie immer.«
    Sie lässt sich aufs Sofa fallen und ist zu faul, die Hand nach der Schale mit den Erdnüssen auszustrecken. Vor dem polnischen Tor drängen sich jene überbezahlten Fußballprofis, die ihr Sohn sich weigert in sein Verständnis von ›Wir‹ zu integrieren. Wobei unklar bleibt, ob er überhaupt ein Verständnis von ›Wir‹ hat. Der Ball fliegt herein, alle springen hoch, der Ball ändert seine Richtung, nimmt Kurs aufs Tor und wird gehalten.
    »Und willst du mir nicht endlich erzählen, wie dein Besuch bei Endlers war?« Seit dem Gespräch mit Thomas Weidmann hat sie kaum noch an den Vorfall in der Schule gedacht, weil ihre Gedanken jedes Mal hängen bleiben bei ebendiesem Gespräch, den Veilchen und der Frage, was sie zu bedeuten haben.
    Daniels Blick lässt keine Reaktion erkennen, aber er scheint auf einmal etwas weiter weg zu sitzen in seinem Sessel. Das Wohnzimmer wirkt größer. Formationen von Zypiklon-Molekülen ziehen in ihr Gehirn ein, und sie muss ankämpfen gegen die

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