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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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nicht.«
    »Wirklich nicht?«
    »Nein.«
    »Was interessiert dich denn? Mädchen? Hast du eine Freundin? Sag!«
    Sein Atem erinnert sie daran, wie sein Gesicht aussieht. Als Vierzehn-, Fünfzehnjährige hat sie panische Angst vor Mundgeruch gehabt, eigenem und fremdem, hat sich fünf Mal am Tag die Zähne geputzt und Mundwasser genommen und …
    »Ich hatte mit sechzehn meinen ersten Freund. Oder sogar schon mit fünfzehn?«
    »Leg dich hin jetzt.«
    »Deine Mutter war nämlich gar nicht so unpopulär, wusstest du das? Ich meine, im Vergleich zu jetzt.«
    Sie stehen bereits vor dem Bett. Um ihn zu ärgern, lässt sie sich nach vorne kippen, mitten in den Schlaf hinein, und um den Rest kümmert sie sich nicht mehr. Langsam beschreibt ihr Körper eine Drehung, dann kappt die Bettkante ihr die Spannung der Beine, sie dreht sich noch einmal, und Daniel lässt los mit einem genervten Schnauben. Sie fällt sehr lange. Eines Tages wird sie Thomas Weidmann in die Arme fallen, das erscheint ihr vollkommen gewiss. Und es fühlt sich wunderbar an, jetzt schon, sie fällt mitten durch die Wirklichkeit hindurch, Autos fahren vorbei, ein endloser Strom. Dann liegt sie hinten auf der Rückbank, und die Wolken am Himmel sehen aus wie aufgeblasene Rettungsboote. Ihre Eltern unterhalten sich leise. Da wird Sand sein, wo sie ankommen, feinkörnig und hell. Und Licht auf Wellenkämmen. Wasser plätschert gegen die Bootswand.
    Nicht zu glauben, denkt sie. Ich bin verliebt.
    Dann geht die Sonne unter.

9
    Er nahm das Taschenmesser, griff nach seinem Stock und machte oben die Rinde ab. Überall spielte Musik. Der ganze Frühstücksplatz war voller Kapellen, aber eigentlich gingen ihm diese Tubas inzwischen tierisch auf die Nerven. Dicke Männer bliesen die Backen auf, als ob sie furzen müssten, und so ähnlich klang’s dann ja auch. Er saß wieder am Rand auf der Böschung, bloß dass heute niemand angeschlichen kam und ihn erschreckte. Die Sonne schien, und alle lachten und dirigierten in der Luft, wenn eine Kapelle vorbeimarschierte, aber er war nur zur Rheinstraße gegangen, um sich ein Abzeichen zu holen. Da stand sein Vater auf dem Fass so wie gestern und vorgestern und schrie Hoch! Hoch! Hoch!, aber in Wahrheit guckte er geradeaus zum Wald und achtete gar nicht darauf, wer bei ihm unter die Fahne kam.
    Nur ein Abzeichen, damit hatte er sich eine Cola geholt und das Abzeichen dann gleich wieder in die Hosentasche gesteckt. Am liebsten würde er sich auf ein Fass stellen und über den ganzen Platz Scheiße! Scheiße! Scheiße! brüllen. Es war alles anders gekommen, der ganze Grenzgang. Am Morgen auf dem Marktplatz hatte Linda bei ihrer Mutter gestanden, sich nach ihm umgeguckt und ihm sogar gewinkt mit der Walfisch-Plakette in der Hand. Aber gestern war gestern, und heute wollte er nicht gefragt werden, wo seine Mutter war und warum seinem Vater dieses riesige Pflaster auf der Stirn klebte. Wären sie alleine gewesen, hätte er hingehen können, aber auf dem Marktplatz nicht, und jetzt stand sie da mit Carla und zählte ihre Abzeichen und guckte nicht mal mehr.
    Er schnitzte an dem Stock rum.
    War es seine Schuld? Er war immer noch verknallt, aber sie hätte ja später noch einmal winken können oder fragen, ob sie sich bei den Rheinstraßen-Burschen einen Wal holen sollten.Stattdessen war sie verschwunden in der Menge. Am Abend hatte er an ihren Kaugummigeruch gedacht, aber beim Aufwachen nicht mehr. Da war er runter ins Wohnzimmer gegangen, um sich die Blutspritzer anzusehen. Auf dem Teppich unter dem Tisch. Ziemlich viel Blut. Bettzeug und ein Haufen Taschentücher lagen auf der Couch, aber seinen Vater hatte er erst gesehen, als die Rheinstraße auf dem Marktplatz einmarschiert war.
    Seine Mutter war gar nicht erst aufgestanden.
    »Ich würde ja mal was essen.« Nobs stand ein paar Meter weg und kaute seine Wurst. Sie hatten den ganzen Morgen nicht geredet. Er war vorne gegangen, neben dem Zug und allein, weil Onkel Hans ihm auf den Geist ging mit seinem Gerede. Dass er sich keine Sorgen machen soll. Dass auch Erwachsene sich manchmal wie Kinder benehmen. Nobs hätte ihm vielleicht sagen können, was das zu bedeuten hatte, aber der guckte so, als interessierte ihn überhaupt nicht, was mit einem ist, der sich mit Mädchen abgibt.
    »Hab keinen Hunger.«
    »Gut. Kriegste halt Krämpfe. Soll mir auch recht sein.«
    »Krämpfe, klar.«
    »Im Bein, stell dir vor.«
    Seid ihr beide jetzt total verrückt geworden? Könnt ihr nicht

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