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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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reden wie normale Menschen? Onkel Hans war ziemlich laut geworden letzte Nacht, während er seinen Vater verarztete und seine Mutter daneben saß und gar nichts sagte. In die Decke gewickelt wie nach einem Unfall.
    Dann hörte er die Wettläufer: Erst war es nur einer, dann zwei und dann wieder nur einer, weil sie begannen sich abzuwechseln. Er wischte die Messerklinge an seinem Hosenbein ab und trank die Cola aus. Das Signal zum Abmarsch. Irgendwo trommelte einer den Takt der Peitschen mit, und Leute klatschten. Das war der letzte Frühstücksplatz. Beim nächsten Mal würde er sechzehn sein und Mitglied der Burschenschaft. Und Nobs sagte:
    »Also, ich geh mir jetzt noch so ne verdammte Wurst holen, und wenn ich du wäre, würd ich mitkommen und mir auch eine holen.«
    »Du kriegst Krämpfe, stell dir vor, aber im Bauch.«
    »Wenn du daliegst und nicht mehr weiterkannst, kannste ja deine Linda fragen, ob sie dich zurückträgt nach Bergenstadt.« Er sagte ›deine Linda‹, aber nicht ›deine Scheiß-Linda‹, was er gesagt hätte, wenn er so richtig böse wäre.
    »Glaubst du vielleicht, ich warte auf dich, wenn du Dünnpfiff bekommst.«
    Daraufhin streckte Nobs ihm den Hintern raus und machte ein Geräusch mit der Zunge wie beim Kacken und sagte:
    »Den kriegt man nur von Hackbraten.«
    Dann lachten sie beide. Er steckte sein Messer ein und lief hinter Nobs her zum Würstchenstand. Die wollten gerade Feierabend machen, aber er bekam eine Wurst im Brötchen und strich Senf drauf, bevor sie nach vorne liefen, wo der Zug sich zu formieren begann. Da, wo die Wettläufer peitschten, bildete sich ein Kreis, und als sie aufhörten, machten ein paar die Welle mit den Armen. Fahnen wurden eingerollt. Jede Gesellschaft hatte einen Vorschreier, und die brüllten den Namen der Gesellschaft, und alle antworteten Hoch! Hoch! Hoch! oder Hoi! Hoi! Hoi! Manche so und manche so.
    Seinen Vater sah er auch, da wo sich die Rheinstraße formierte und der dicke Schulleiter vom Gymnasium seine Uniform richtete. Nach den Sommerferien musste er dahin gehen, über die Brücke bei der Berufsschule. Fünfte Klasse. Das bedeutete, dass man kein Kleiner mehr war, aber es bedeutete auch, dass man nichts davon hatte, denn man war kein Kleiner mehr an der Grundschule, aber da würde er ja auch nicht mehr hingehen, und wo er stattdessen hinging, gab’s Schüler, die Auto fuhren. Es war alles viel schwieriger, als er gedacht hatte, und darum war er froh, dass wenigstens Nobs nicht mehr so weit weg stand und auch nicht mehr so guckte über den Platz. Er lachte immer noch. Aufs Gymnasium würde Nobs aber nicht gehen nach denFerien, weil es in Mathe nicht klappte und er sowieso Schreiner werden wollte. Eigentlich waren sie jetzt schon keine Klassenkameraden mehr, nur noch Freunde.
    »Wir müssen vorne dabei sein«, sagte Nobs, »sonst kriegen wir nachher bei der Abschlussversammlung keinen guten Platz.«
    »Wir dürfen sowieso nicht bei den Gesellschaften stehen.«
    »Ich steh, wo ich will. Die können mich mal.«
    »Kannst es ja versuchen.«
    »Stell dir vor, kann ich auch.«
    »Was ist, wenn sie sich schlagen? Ist es dann bald vorbei?«
    Nobs wusste immer sofort, wenn er davon sprach.
    »Schlagen ist natürlich schlecht. Dann sagt deine Mutter: Ich lass mir doch nicht alles gefallen, du Dreckskerl, und dann ist es bald vorbei. Dann müssen sie zum Richter.«
    »Und umgekehrt? Wenn meine Mutter schlägt?«
    Aber das wusste Nobs auch nicht, er machte nur große Augen und sagte:
    »Wow.«
    Halt den Mund, Hans, hatte sie gesagt. So leise, dass er’s kaum verstehen konnte oben hinter dem Treppengeländer.
    Manche Leute umarmten sich, bevor sie sich einreihten in den Zug. Er hatte den Stock in der Hand, und der fühlte sich kühl und feucht an, wo die Rinde ab war. Wie immer nach dem Frühstücksplatz mussten die Besoffenen im Wald verschwinden, um zu pinkeln oder zu kotzen. Eigentlich war das jetzt schon der Rückweg, und es dauerte nicht mehr lange, bis alles vorbei sein würde. Und immer noch hatte er Linda nicht gefunden und ihr gesagt … irgendwas eben. So dass sie wusste, dass er noch verknallt war. Obwohl sie sich das auch selbst denken konnte, warum sollte er gestern verknallt sein und heute plötzlich nicht mehr? Aber andererseits: Dass sie noch verknallt war, darauf würde er auch nicht sein ganzes Taschengeld wetten. Über eine Stunde hatte er am Frühstücksplatz am Rand gesessen, und sie war nicht vorbeigekommen, sondern mit Carla über

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