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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Anita.
    Eine HR-3-Hörerin mit Piepsstimme wünscht sich Elvis Presley, »für meinen Schatz, der noch im Büro sitzt und den ich ganz doll lieb habe«, und Kerstin fragt sich, warum sie ihm das nicht sagt, wenn er nach Hause kommt.
    Als sie das nächste Mal nach Westen schaut, ist vom Sonnenuntergang nichts mehr geblieben. Noch ein paar Kurven, dann wird die Autobahn sich in die Tiefe der Wetterau senken. Ein dreispuriger Strom aus Lichtern, eine Mischung aus Wochenendeinkäufern, Ausflüglern und Nachtschwärmern und zwischendrin ein Bergenstädter Damenduo, das seit mehreren Minuten aus verschiedenen Fenstern in die vorbeitreibende Nacht sieht. Wie immer, wenn ihre innere Anspannung überhandnimmt, betrachtet Kerstin sich selbst wie durch eine Begleitkamera, alswäre sie auf der Suche nach jener Grimasse, die ihre Nervosität in einem befreienden Lachen auflösen kann. Aber alles, worauf sie stößt, sind Karin Preiss’ Blick und der gereizte Tonfall ihrer Stimme:
    »Was denn?«
    »Ich denke immer noch darüber nach, warum … Ich meine, was war noch mal der Grund, weshalb wir in diesen Club gehen sollen?« Es kommt ihr selbst albern vor, die Frage jetzt zu stellen, wo sie ihr Ziel fast erreicht haben, und sie ist Karin dankbar, dass sie ihr Stöhnen, so gut es geht, unterdrückt.
    »Ich hab dich gefragt, und ich bin froh, dass du mitkommst. Aber ich habe dich nicht gezwungen.«
    »Sollte kein Vorwurf sein.«
    »Wir tun es einfach. Wir fragen nicht warum, denn wir sind niemandem Rechenschaft schuldig. Wir tun zur Abwechslung mal, was nicht von uns erwartet wird. Es ist Ewigkeiten her, dass ich zuletzt etwas einfach so gemacht habe.«
    Einfach so. Kerstin hätte gerne gewusst, wie man gleichzeitig verheiratet und niemandem Rechenschaft schuldig sein kann, aber es scheint ihr wenig ratsam, ihre Skepsis auch noch mit einer Andeutung moralischer Überlegenheit zu kombinieren – zumal sie eine solche gar nicht empfindet.
    Am Vormittag hat sie ihre Mutter ins Krankenhaus gebracht. Liese Werner, ein schweigsames, verwirrtes Kind, das auf alle Erklärungen nur mit einem Nicken antwortete und keine Fragen stellte. Ein junger Doktor hat die Untersuchung geleitet und Kerstin mitgeteilt, dass das CT keine Anzeichen auf innere Blutungen erbracht habe.
    Ihre Mutter leide an einer Demenz, die durch viele kleine Schlaganfälle, sogenannte Schlägle, bedingt sei. Die Kopfschmerzen erkläre das zugegebenermaßen nicht, aber da glaube er an einen Zusammenhang mit der Blasenentzündung. Doktor Hentig. Der Name auf dem Schild ist ihr bekannt vorgekommen, aber das Gesicht nicht, er muss neu sein in Bergenstadt. Ein fescher Arzt, wie aus einer Vorabendserie, teuer bebrillt undgut rasiert, mit den autoritätsschwangeren Gesten seines Berufsstandes: Die Hände an den Fingerspitzen zusammengelegt, so dass sie sich gefragt hat, ob auch Mediziner Seminare belegen wie Körpersprache und nonverbaler Ausdruck . Ob es speziell einstudierte Haltungen für die Übermittlung bestimmter Nachrichten gibt.
    Das Weiß seines Kittels kam ihr anmaßend vor.
    Wir werden sie erst einmal dabehalten zur Flüssigkeitsbilanzierung, sagte er schließlich. Heute Nachmittag machen wir einen Demenztest, um zu sehen, wie weit der Verfall fortgeschritten ist. Sie konnte mir ihren Namen nicht sagen, ist Ihnen das aufgefallen?
    Wie hätte ihr das nicht auffallen können? Er trägt seinen Kittel, als wäre er darin zur Welt gekommen, denkt sie und weiß, dass kein Grund besteht für diese Feindseligkeit gegenüber einem Arzt, der sich viel Zeit nimmt für das Gespräch. Warum irritiert sie dieses Weiß so? Gereinigt, gestärkt, geplättet und desinfiziert. Unmenschlich. Einen Moment lang sieht sie ihn nickend an und überlegt, an wen sein Blick sie erinnert, und als es ihr einfällt, hebt sie die Schultern und fragt: Und dann?
    Aber in Wirklichkeit will sie das gar nicht wissen. Sie sieht aus dem Autofenster in die nächtliche Dunkelheit und versucht sich zu sagen, dass es ihrer Mutter nicht helfen würde, wenn sie den Abend zu Hause verbrächte. Den ganzen Tag hat sie im Krankenhaus vor Untersuchungszimmern gewartet, am Bett ihrer schweigenden Mutter gesessen und aus großen Fenstern auf die Lahnwiesen geschaut.
    Auf 20 Punkte ist ihre Mutter beim Demenztest gekommen. Wusste weder, in welchem Bundesland sie lebt, noch, in welchem Monat.
    »Wir tun es einfach«, sagt sie, so als ob sie in der Zwischenzeit an nichts anderes gedacht hätte.
    »Genau.«
    »Aber bevor

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