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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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wird. Man merkt es nur an den blauen Schildern. Die schnellste Strecke ist das nicht, aber Kerstin hat nichts gesagt, sondern auf ihr Sodbrennen geachtet und die Dörfer entlang der Strecke, die alle gleich langweilig aussehen: Kneipen, Metzgereien, Bäckereien, in der Mitte eine Kirche, manchmal eine Quelle-Filiale, manchmal Mode für Sie & Ihn . Ihr liegt sowieso nicht daran, schnell anzukommen. Eine bedrückende, an die Langeweile ihrer Jugend erinnernde Samstagabendnormalität hängt über diesen Dörfern und den verwaisten Sportplätzen dazwischen. Dicke Menschen unterhalten sich über Gartenzäune hinweg. Autos stehen wie gewienerte Pokale in Hofeinfahrten. Wenn ich die Wahl hätte zwischen dem Kummer und dem Nichts …, hat sie unlängst bei Faulkner gelesen, aber das kommt Kerstin in diesem Augenblick wie eine Alternative vor, die es nur in Romanen gibt. In Wirklichkeit hat man sich zu entscheiden zwischen zwei Arten von Kummer, und das Nichts, lernt man früh genug, ist bloß der Unterschied zwischen beiden.
    Mit anderen Worten: Sie ist nicht in der Stimmung für Gruppensex.
    Im Westen hängt ein Rest Sonnenuntergang über dem flacher werdenden Horizont, ansonsten ist der Himmel dunkel,und die Straßenränder zeigen Spuren eines leichten Sommerregens. Zu ihrem Bedauern hat Frau Preiss schon kurz hinter Bergenstadt anhalten und das Dach schließen müssen, aber jetzt verkündet der Diskjockey von HR 3, »dass uns morgen wieder ein Eins-A-Sommertag erwartet, Freunde, von Kassel bis zur Bergstraße«. Karin Preiss trägt eine Brille und sitzt so aufrecht hinter dem Steuer, dass ihr Rücken kaum die Sitzlehne berührt. Trotzdem fehlt nicht viel, und der Tachometer hätte ihr die Sicht auf die Straße versperrt. Jedes Mal, wenn Kerstin ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zuwirft, stellt sie sich dieselbe Frage: Was bringt eine verheiratete Frau und Mutter einer sechzehnjährigen Tochter dazu, sich in einem Kaff namens Nieder-Enkbach den lüsternen Blicken wildfremder Provinzler aussetzen zu wollen? Mit entschlossen abenteuerlustiger Miene und einer Umsicht, wie sie früher der Planung von Lindas Kindergeburtstagen gegolten hat. Zwei Sortimente Damenunterbekleidung liegen auf der Rückbank, Kerstin hält einen Internetausdruck mit der Wegbeschreibung in der Hand, und hinter dem Beifahrersitz lagern ein halbes Dutzend Piccolo-Sektfläschchen in einer Kühlbox, aus der es in scharfen Kurven leise klirrt.
    »Die Kunden, habe ich mir sagen lassen, kommen größtenteils aus Frankfurt und Wiesbaden. Ist ja nicht weit über die Autobahn. Bei den Einheimischen ist der Club kaum bekannt.« Das war Karins letzte Äußerung vor der Schnellstraße, auf die Kerstin aber nur in Gedanken geantwortet hat: Es sei denn, einer liest mal aus Versehen den Anzeigenteil seiner Lokalzeitung.
    Langeweile alleine reicht als Antwort nicht aus. Frustration, Vernachlässigung, Einsamkeit oder die berühmte Torschlusspanik – nichts davon scheint auf Karin Preiss zuzutreffen, also bleibt nur Banalität: Wir tun es, weil wir es können. Wir suchen nach Gründen, es nicht zu tun, finden keine und tun es also. Oder finden welche, aber tun es trotzdem. Möglichkeiten sind Einladungen, die sich nicht ausschlagen lassen. Kerstin wirfteinen Blick auf den von nervösen Händen bis zum Zerfallen auf- und zugefalteten Ausdruck in ihrem Schoß und sagt:
    »Die nächste Abfahrt.«
    Die Autobahn führt zwischen Schallschutzwänden durch den Gießener Stadtbereich. Ein Schild kündigt die US Facilities an. Thomas Weidmann hat nicht mehr angerufen, und sie fühlt sich vom Warten so ausgelaugt, dass sie bis vor kurzem geglaubt hat, zu allem bereit zu sein.
    »Alles klar.« Obwohl sie nicht überholt und die Straße nicht ansteigt, schaltet Frau Preiss einen Gang zurück und drückt aufs Gas. Sie fährt barfuß. Die Schuhe mit den hohen Absätzen hat sie unter ihren Sitz geschoben, ihr tief ausgeschnittenes Kleid endet knapp unterhalb der Knie. Gewagt geschnitten und brav gemustert, so dass man nicht weiß, ob es verführerisch oder bieder aussieht. Ein ganzes Sammelsurium von Düften – Haarspray, Creme, Parfüm, Deodorant – weht Kerstin vom Fahrersitz entgegen. Sie selbst hat zum ersten Mal Anitas Parfüm aufgelegt, mit einem derben Fluch auf den Lippen und dem Gefühl, ein stark übertriebenes Kompliment entgegenzunehmen, so stark, dass es an Beleidigung grenzt.
    Jetzt riecht sie also wie die Frau, die sie gerne wäre, und denkt: Fick dich,

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