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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Möglichkeit zur Anprobe an, gegenüber steht ein Tisch, hinter dem der alte Herr Yilmaz sitzt und ihr zunickt. Ein Mann im blauen Kittel, mit grauweißen Haaren unter einer bestickten Kopfbedeckung. Es gibt ein Schaufenster, aber nichts als graue Gardinen darin. Sie hat ihr Kleid auf den Tisch gelegt, in dessen Saum eine Reihe Nadeln die gewünschte Länge markierte, Herr Yilmaz hat genickt und ihr einen Quittungsblock zugeschoben, auf den sie ihren Namen schrieb und fragte: Nächsten Mittwoch? Woraufhin er noch einmal nickte. Erst draußen auf dem Bürgersteig ist ihr aufgefallen, dass der Schneider kein Wort mit ihr gesprochen hat, keine einzige Silbe.
    Es stört sie sehr, kein Taschentuch zur Hand zu haben.
    Karin steht bereits wieder und wartet, so als verlangte die Situation nach einem gemeinsamen Aufbruch.
    »Sag mal, der alte Schneider Yilmaz«, sagt Kerstin im Aufstehen, »ist der eigentlich stumm oder kann er bloß kein Deutsch?«
    »Bitte?«
    »Fällt mir gerade ein, weil ich am Nachmittag in der Rheinstraße war. Ich hab ihm ein Kleid zum Ändern gegeben, und er hat kein Wort mit mir gesprochen.«
    »Der alte Wer?«
    »Yilmaz, der türkische Schneider in der Rheinstraße.« Der Mond hat sich ein Stück weiter über die Wolkenberge geschoben und schickt einen fahlen Schimmer auf die Senke. Ein einzelner Gummistiefel liegt im kniehohen Gebüsch. Karin Preiss schüttelt den Kopf.
    »Kenn ich nicht.«
    »Du bringst keine Sachen zum Ändern, oder?«
    »… Nein.«
    Einen Moment lang stehen sie einander wie zum Duell gegenüber, Kleid ohne Arme gegen Kleid mit freiem Rücken, während ein Lastwagen die Landstraße entlangdonnert und mit seinen Scheinwerfern die Böschung erhellt. Eine plötzliche Bereitschaft zur Feindseligkeit liegt in ihrem Schweigen. Karin Preiss’ Handbewegung bedeutet: Mach nur weiter so. Irgendwo am Rand einer Bundesstraße, wo sie nichts verloren haben und trotzdem den Eindruck erwecken, auf der Suche zu sein.
    »Es gibt dort also einen Schneider«, sagt Karin leise. »Und?«
    »Er spricht nicht.«
    Darauf bekommt sie keine Antwort.
    »Vergiss es, war nur ein flüchtiger Gedanke. Du kaufst dir einfach neue Sachen, nehm ich an.«
    Wie brennendes Papier rollt sich die Stille zusammen.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Nein! Nichts, es kam mir einfach gerade in den Sinn. Ich hab …«
    »Was soll das?« Karin spricht plötzlich mit veränderter Stimme.
    »Du verstehst mich völlig falsch.« Ihre eigene Stimme klingt jetzt auch anders. Als spräche sie gegen den Wind.
    »Sag es doch, sag es einfach, statt mir mit diesem Quatschmit stummen Schneidern zu kommen!« Karin zittert vor Wut und scheint tatsächlich im nächsten Augenblick mit gesenktem Kopf auf sie losgehen zu wollen. »Wenn du findest, dass ich eine verwöhnte und obendrein verdorbene Person bin, sprich es wenigstens aus. Glaubst du, ich merke nicht, wie du mich ständig anguckst? Denkst du, ich bin zu blöd, in deinen Blicken zu lesen? Wie kann sie nur, wie kann sie nur? Warum setzt du dich mit mir ins Auto, wenn du jede Gelegenheit nutzt, mich spüren zu lassen, dass mit mir was nicht in Ordnung ist?«
    »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Ja, ich lebe in einem von meinem Mann erarbeiteten Wohlstand, und ja, ich bin dabei, meinen Mann zu betrügen! Ich weiß nicht, ob’s dazu kommen wird, aber ich fahre hinter seinem Rücken in dieses … dieses … Und ich weiß verdammt genau, dass ich das nicht tun sollte und dass ganz Bergenstadt mit dem Finger auf mich zeigen würde. Ich weiß das alles, und ich brauche es von dir nicht ins Gesicht geschmissen zu bekommen auf diese hinterfotzige Art!«
    »Hör bitte auf zu schreien.«
    »Ich bringe keine Sachen zum Ändern, nein, tue ich nicht! Wenn in der Rheinstraße ein Laden aufmacht, in dem man sein Leben ändern lassen kann, dann sag mir Bescheid. Für stumme türkische Schneider hab ich keine Verwendung.« Karin atmet heftig und sieht auf ihre Hände wie damals im Auto, auf die Innenseite ihrer Handflächen, als stünde dort etwas, das sie nicht entziffern kann.
    Sie selbst ist überhaupt nicht wütend, aber trotzdem hat sie Lust, auf Karin Preiss’ Ausbruch mit gleicher Lautstärke zu antworten. Sie fühlt diesen Druck auf der Brust, sie müsste nur den Mund aufmachen und alle Muskeln anspannen, aber sie hat nichts zu sagen. Karin tut ihr leid, zum ersten Mal. Wahrscheinlich hat sie sogar Recht.
    »Dann lass uns gehen«, sagt sie. Sorgfältig auf die Unebenheiten im Boden

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