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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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mal«, sagt sie.
    »Ich auch.«
    »Ich glaube, wir machen keinen guten Eindruck, wenn wir da reingehen und als Erstes auf dem Klo verschwinden.« Sie hat auch keine Lust, sich die Toiletten ›da‹ vorzustellen.
    »Nein.«
    Die Ampel wird grün, und Karin Preiss fährt so langsam los, als sei sie auf der Suche nach einem Parkplatz. Sie unterqueren die Autobahn, die Straße wirkt plötzlich sehr schmal, und hinter den Hecken am Straßenrand erstrecken sich dunkle Felder, dann Lichter, die vage Formation einer Ortschaft.
    »Du meinst – hier?«
    »Rastplätze kommen keine mehr.« Karin Preiss bleibt im zweiten Gang, achtet nicht auf das langgezogene Hupen, mit dem der erste Wagen an ihnen vorbeiprescht. »Irgendein Feldweg. Sind wir überhaupt richtig abgebogen gerade?«
    »Wie man’s nimmt.«
    Diesmal unterdrückt Karin ihr Stöhnen nicht:
    »Zum letzten Mal, Kerstin: Wir machen das jetzt.«
    Siehst du, der Punkt ist, hätte sie gerne gesagt: Wir sind aus dem Alter raus, wo man etwas ›einfach so‹ macht. Wir sind erwachsen, wir haben zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote zu glauben. Aber es ist sinnlos. Und übrigens fällt es ihr jedes Mal auf, wenn Karin Preiss sie mit dem Vornamen anspricht, es klingt ungewohnt und wie eine Erinnerung daran, dass sie einander noch immer kaum kennen. Nein, das hier ist keine Neuauflage des legendären 80er-Jahre-Duos Anita& Kerstin, sondern eine improvisierte, aus der Not geborene Nummer: Doña Quixote am Steuer und Sancha Pansa auf dem Beifahrersitz. Letztere hat die Wegbeschreibung inzwischen so zugerichtet, dass sie am Ende nach dem Weg zu diesem Bumslokal werden fragen müssen.
    »Wir machen das«, sagt sie, »aber vorher hocken wir uns in Ruhe ins Gebüsch.«
    »Genau.« Anita hätte gesagt: Schon besser, Schätzchen.
    Nach weiteren hundert Metern Schleichfahrt zweigt ein Feldweg von der Landstraße ab, führt in eine Senke und verschwindet hinter dichtem Gesträuch. Karin Preiss folgt ihm eine Autolänge, bis die Kühlerhaube sich abwärtsneigt und die Scheinwerfer eine grüne Blätterwand anstrahlen. Dann stellt sie den Motor ab, und es ist, als fiele ihnen die Dunkelheit mit einem hohlen Plopp aufs Autodach.
    »Besser, ich lass den Wagen hier oben stehen.« Karin öffnet die Fahrertür und beugt den Oberkörper hinaus. »Schuhe anziehen oder auslassen?«
    Kühler als erwartet kriecht die Nacht herein. Das Licht im Innern macht die Dunkelheit draußen nur noch dichter. Vom Rauschen der Autobahn abgesehen, hängt Stille über der flach ausgestreckten Landschaft, außerdem ein schwacher Geruch von Jauche.
    »Kommt drauf an, wie nah du den Kuhmist an dich ranlassen willst.« Kerstin lässt ein Auto oben an der Landstraße passieren, bevor sie aussteigt. Der Boden des Feldwegs ist holperig, aber trocken. Sie streicht ihr Kleid glatt und folgt ihrer Nachbarin, die bereits das Ende der Senke erreicht hat und sich suchend umblickt. Ein Hauch von Komödie schwebt über der Szenerie, eine Mischung aus Schülerstreich und Provinzposse. Sie könnte sich jetzt zum Beispiel einen ihrer hohen Absätze abbrechen, den Feldweg hinabkugeln und in einer Viertelstunde einem Landarzt erklären müssen, warum man nachts in Cocktailkleidern über Weiden läuft. Oder ein Auto hält am Straßenrand, und ein besoffenes Kreisklasse-Team spendet ihnen Applaus beimPinkeln. Oder sie werden vergewaltigt, und im nächsten Dorf hört sich ein vom Fernseher weggerufener Polizist ihre Geschichte an und sagt: Gell, so was Ähnliches hatten Se ja sowieso vor. Oder, oder, oder. Dieser Ödnis um sie herum wäre alles recht. Am Nachmittag, nach dem Besuch im Krankenhaus, ist sie in die Stadt gefahren zur Schneiderei Yilmaz. Fast eine halbe Stunde hat das gedauert, weil auf dem Marktplatz alle Leute verrücktspielten am helllichten Tag, Fahnen schwenkten aus den Fensteröffnungen ihrer Autos und Schlachtgesänge anstimmten, von We are the Champions bis So ein Tag … Das Spiel hat sie verpasst, aber offenbar haben die Deutschen gewonnen.
    Mit der Fußspitze tritt sie ein paar wilde Margeriten platt, rafft ihr Kleid hoch und hockt sich hin. Ein Fast-Vollmond lugt über eine langgezogene, wie ein fernes Bergpanorama aussehende Wolkenkette. Vor dem türkischen Gemüseladen hat sie schließlich einen Parkplatz gefunden und ist mit ihrem Elternsprechtagskleid unter dem Arm in die Schneiderei gegangen. Ein vertäfelter Raum, kahl wie ein leergeräumter Keller. In einer Ecke deutet ein Vorhang die

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