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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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wollte sie mit dieser Rechnung hinaus?
    Mit beiden Händen hielt sie sich am Geländer des Tanzbodens fest und hätte sich lieber an etwas anderem festgehalten und wusste genau, dass es sich nicht festhalten ließ. Es begann ja erst. Das Zelt in seiner rauchgeschwängerten Jämmerlichkeit ließ auf den großen Kehraus hoffen, aber dahinter leuchtete der Himmel in explodierenden Feuerblüten, und wenn die sich schwarz geregnet hatten, würde der große Ringelpiez weitergehen bis zum Morgengrauen. Sie hatte keine Wahl, sie konnte nur mitmachen.

    * * *

    »An meinen Blutdruck denkt wohl keiner«, sagt Granitzny, als der Schiedsrichter abpfeift und die Reaktion der Zuschauer im Stadion einer Implosion ähnelt, einem sich neutralisierenden Gleichgewicht zwischen Ent- und Anspannung. Einen Moment lang, bevor sie zur Seitenlinie traben, scheinen die Spieler auf dem Platz zu verharren wie zu einer Schweigeminute.
    Elfmeterschießen.
    »Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Fußball«, sagt Weidmann, »sondern wohnen dem Ereignis nur aus sozialem Pflichtgefühl bei.«
    Stickige Luft hängt im Rektorzimmer, angestaute Sommerwärme durchsetzt von Cognacschwaden und Granitznys säuerlichem Schweiß. Das Fernsehgerät steht auf dem Schreibtisch wie ein über Wohl und Wehe befindendes Orakel, und davor auf den beiden Besucherstühlen sitzen sie: Zwei Fremde, die nichts von Fußball verstehen, denen der Alkohol zwar die Befangenheit genommen, aber nicht die Zunge gelöst hat und die sich ungern fragen lassen würden, was sie hier eigentlich machen. Den ganzen Nachmittag über hat Weidmann nichts außer Kaffee getrunken, und jetzt nippt er am dritten Cognac,fühlt sich ausgetrocknet und winkt ab, als Granitzny mit dem Flaschenhals in seine Richtung deutet.
    »Möchten Sie auf den Ausgang wetten?«, fragt der und schenkt sich selbst ein. Die Hand, die das Glas hält, aufs Knie gestützt. Wenige leiden so offensichtlich wie Granitzny unter der Tyrannei der Schwerkraft. »Nur so zum Spaß. Um echte Anteilnahme zu suggerieren.«
    »Das tut Ihr Blutdruck bereits recht überzeugend, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«
    »Vier zu drei für Argentinien.«
    »Umgekehrt.«
    »Um was?«
    »Nur so zum Spaß. Um Anteilnahme zu suggerieren.«
    »Wir könnten auch Pizza bestellen.« Granitzny stopft sich das Hemd zurück in die Hose, das ihm beim Ausgleich aus dem Bund gerutscht ist. Das deutsche Tor war der merkwürdigste Augenblick des ganzen Nachmittags: Granitzny plötzlich ein hopsender Medizinball, und um kein Spielverderber zu sein, erhob sich auch Weidmann – so bedächtig, wie die Gemeinde sich zum Gebet erhebt –, und dann standen sie nebeneinander vor dem kleinen Bildschirm, Schulter an Schulter, und mussten einander irgendwie ihre Freude oder mindestens ihr Einverständnis mit dem Geschehen in Berlin signalisieren. Das, was die Leute auf den Fanmeilen neuerdings in ekstatischen Umarmungen taten und sie beide schließlich durch einen Handschlag bewerkstelligten. Wortlos, aber das ging auch nicht; zu groß war der Kontrast zu den Jubelszenen in Berlin und zu den vereinzelten Schreien aus Bergenstädter Wohnstuben. Standen ja überall die Fenster offen.
    Schönes Tor, sagte Granitzny schließlich. Wer war’s?
    Ein Herr Klose, erwiderte Weidmann, woraufhin sie beide betreten lachten, wieder Platz nahmen, Cognac tranken und bis zum Schlusspfiff der regulären Spielzeit kein Wort mehr wechselten. Volle zwölf oder dreizehn Minuten lang.
    »Danke«, sagt Weidmann jetzt. »Ich esse später.« Lange vordem Ausgleich hat er den roten Polo vom Schulgelände fahren sehen, und seitdem weiß er nicht, ob er noch mal davongekommen oder ein Versager ist. Jedenfalls fühlt er sich schäbig in seinem Versteck und hofft, das Drama von Berlin werde bald vorüber sein und ihn aus dem Büro des Schulleiters entlassen. Warum auch immer Granitzny ihn eingeladen hat, es scheint kein kommunizierbarer Grund zu sein. Der Rektor hat den Cognacschwenker auf seinem Bauch abgestellt und wischt sich den Schweiß mit dem Hemdsärmel von der Stirn. So wie die, denen er zusieht.
    »Ich weiß, worum wir wetten«, sagt er. »Argentinien gewinnt, und wenn es so kommt, werden Sie nächstes Schuljahr Stellvertretender Schulleiter.«
    »Ich dachte, der Konrektor wird vom Schulamt bestimmt oder vom RP.«
    »So was drück ich durch.«
    »Nämlich wie?«
    Granitzny sieht ihn an und zuckt mit den Schultern.
    In Berlin liegen Fußballer auf dem Rasen und lassen sich

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