Grenzgang
kommt sie ins Bild, und eigentlich wollte er den Moment bemerken, in dem sie bemerkt, bemerkt zu werden, aber ihr Aufzug bringt alles durcheinander: Im schwarzen ärmellosen Kleid kommt sie um die letzte Windung der Treppe. Ihr Blick streift die Wand entlang, bis sie ihm direkt entgegensteigt, dann erst richten ihre Augen sich nach oben. Es ist Kerstin Werner und doch nicht die Frau, die er erwartet hat. Nicht die jedenfalls, die er aus dem Bohème hat flüchten sehen. Keine Verantwortung für ihr Unglück lädt der Blick ihm auf, mit dem sie ihr »Guten Abend« untermalt.
Er sagt nur »Ja«, als hätte sie ihm eine Frage gestellt.
Das Kleid betont ihre schlanke Gestalt und lässt gleichzeitig ihre Hüften erkennen, aber ihr Gesicht ist ungeschminkt, und ihre Haare hat sie nicht erst vor sehr kurzer Zeit gewaschen. Ein teurer Duft weht ihm entgegen, aber geschwitzt hat sie auch. Die Handtasche hält sie sich mit zwei Händen vor den Unterleib wie eine Kirchgängerin das Gesangbuch. Und in seinem Hinterkopf fehlen plötzlich ein paar Puzzleteile.
»Muss ich mich an Ihnen vorbeikämpfen, oder werden Sie mich reinlassen?«, fragt sie.
»Bitte.« Er tritt zurück in den Flur.
Sie ist die erste Frau – in dieser gewissen Kategorie von Frau, zu der weder die Spendensammlerinnen des Müttergenesungswerks noch seine Tante Anni gehören –, die seine Wohnung betritt. So gesehen ein historischer Augenblick. Jahre her, dass er sich zuletzt gefragt hat, welchen Eindruck seine Wohnung auf eine Besucherin macht.
»Wenn es Ihnen nicht zu kühl ist«, sagt er, »setzen wir uns auf den Balkon.«
»Ich würde gerne kurz Ihr Bad benutzen.«
Er deutet auf die Tür und genießt das kurze Déjà-vu ihres wippenden Ganges, den er damals am Festplatz bewundert hat. Dann geht er in die Küche, um den Weißwein aus demKühlschrank zu nehmen. Eine Frau in seiner Wohnung – einen Moment lang kommt es ihm vor, als wäre damit alles besiegelt. Wahrscheinlich packt sie gerade den Inhalt ihrer Handtasche auf seine Ablage über dem Waschbecken. Ein bisschen abgekämpft hat sie ausgesehen, wohl weil sie zu Hause gründlich sauber gemacht und weiße Laken über die Möbel gehängt hat. Soll er schon mal eine zweite Bettdecke beziehen?
Es sind absurde Gedanken, mit denen er seine eigene Nervosität bekämpft, aber einen Moment lang tun sie ihre Wirkung. Er hält zwei Weingläser gegen das Küchenlicht und poliert an den Rändern noch mal nach. Im Bad rauscht mehr Wasser, als zum Händewaschen erforderlich ist. Freitagabend, das war früher eine Zeit, als eine gewisse Erwartungshaltung zur Grundausstattung gehörte. Da schien es immer möglich, am Samstagmorgen zwar etwas älter, aber nicht mehr ganz der Alte zu sein. Man trifft jemanden und verliebt sich einfach mal. Und jetzt? Vielleicht hat er sich in den letzten Jahren zu sehr an die Entwöhnung gewöhnt, sei es aus Altersgründen oder weil die Provinz eben keine Wundertüte ist, aus der plötzlich schöne Frauen steigen. Aber die einzige Mittvierzigerin in ganz Bergenstadt, die so ein Kleid tragen kann, hat es gerade in sein Bad getragen. Für den Anfang nicht schlecht. Himmel, denkt er plötzlich, das wäre sogar als Ende noch passabel.
Er wird also nichts tun und nichts verhindern, das heißt, er wird auf den Versuch verzichten, schon vorher so klug zu sein, wie man erst hinterher sein kann. Einen Weinkühler findet er unter der Spüle, und da Kerstin Werner weiterhin im Bad beschäftigt ist, kramt er auch noch ein altes Teelicht hervor. Horcht auf dem Balkon ein Stockwerk tiefer, aber bei Schneiders läuft der Fernseher, und Geschlechtsverkehr ist dort ja erst morgen wieder dran. Die Grünberger Straße liegt ruhig in der frühen Nacht. Wenn Enttäuschung die notwendige Folge davon ist, dass die Struktur unserer Bedürfnisse und die der Realität so ungeheuer schlecht aufeinander abgestimmt sind, denkt er, dann spricht viel dafür, zwar nicht sein Heil, aberwenigstens Asyl in der Verzögerung zu suchen. Am besten zu zweit.
* * *
Als erstes stellt sie den Wasserhahn an und atmet kurz durch. Sie hat keine Zeit und muss dennoch besonnen handeln, bloß – und das ist die Kunst – ohne nachzudenken. Sich keine Rechenschaft ablegen über das, was sie tut, keine Überlegungen anstellen, wozu sie es tut, aber trotzdem umsichtig sein. Sich vor allem nicht ablenken lassen von der Frage, ob dieses Bad ihren Erwartungen entspricht und was es ihr über den Besitzer sagt. Mit einem Fuß
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