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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Ehrgeiz, die die Bereitschaft zu zeitweiliger Selbsterniedrigung mit einschloss. Hauptsache, sie bekam am Ende, was sie wollte. Oder anders gesagt: Anita war frei von der Vorstellung, einen Teil ihres innersten Selbst bewahren und rein halten zu müssen, um ihn eines Tages jemandem anzuvertrauen, der wusste, welchen Schatz er da bekam. Verschenk dich, solange sie noch Schlange stehen, lautete ihr Motto.
    »Schätzchen, was guckst du so?« Eine angriffslustige Trunkenheit schwang in Anitas Stimme mit. Sie versuchte, ihren Zigarettenrauch Kerstin ins Gesicht zu blasen, aber der Wind kam dazwischen.
    »Du siehst so unseriös aus, das stört meinen Mutterinstinkt.«
    Anita blickte an sich herab.
    »Ich finde, ich sehe aus wie eine geschmackvoll verzierte Einladung. Du hingegen …«, hob sie drohend an.
    »Bitte auf die Kürze meines Rockes zu achten.«
    »Du siehst … nein, siehst du nicht. Du siehst fabelhaft aus. Wäre ich ein Mann, ich würde deinen abknallen.«
    Wieder sahen sie einander einen Moment lang stumm an und warteten, dass sich der Rauch von Anitas aggressivem Kompliment verzog. Bemerkungen flogen hin und her am dämmrigen Lahnufer, eine dichte Wolke aus Musik schwebte über dem Festgelände.
    »Aber ich werd’s dir trotzdem nicht verzeihen, dass du mich in Köln hast sitzenlassen«, sagte Anita.
    »Ich dich?«
    »Du mich.« Sie sah weder beleidigt noch verletzt aus, zog an ihrer Zigarette und atmete langsam aus. »So sind die Fakten. Was glaubst du, wie viele Freundinnen wie dich ich da noch habe?«
    »Wieso sagst du das plötzlich?«
    »Weil du mich seit drei Tagen anguckst, als wäre was nicht in Ordnung. Und als wäre das allein meine Schuld.«
    »Was glaubst du, wie viele Freundinnen wie dich ich hier habe?«
    »Keine. Und weißt du was: Du wirst auch nie eine haben. So eine wie mich gab’s hier zuletzt einen Tag bevor ich weggezogen bin.«
    »So sind die Fakten, hm?«
    »Ich will bloß nicht, dass sich zwischen uns was ändert.« Der Wind wehte ihr eine Strähne über die Augen.
    Kerstin hatte plötzlich einen Kloß im Hals, reckte mit gespitzten Lippen den Kopf nach vorne und ließ sich von Anita die Zigarette geben. Wie immer war der Filter feucht. Sie hatte lange nicht geraucht und spürte den Zug wie ein leichtes Klopfen in der Kehle. Neben ihnen betraten zwei Frauen die Klokabinen und setzten ihr Gespräch durch Plastikwände fort.
    »Wird es auch nicht.« Sie erkannte in ihrer eigenen Stimme das Bemühen um Zuversicht.
    »Sicher?«
    Statt einer Antwort machte Kerstin einen Schritt nach vorne und schloss ihre Freundin in die Arme. Eine lächerliche kleine Träne löste sich aus ihrem Auge. Anita konnte eine ausgesprochene Hexe sein, aber sie besaß auch die Begabung, mit zwei Sätzen selbst die größte Irritation wieder aus der Welt zu schaffen – oder jedenfalls den entsprechenden Willen erkennen zu lassen. So hatten sie es immer gehalten: Anita war diejenige, die Ärger verursachte und ihn anschließend wieder in Ordnung brachte. Kerstins Job bestand darin, sich erst aufzuregen und dann zu verzeihen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Anita ihr die Tür im Immatrikulationsbüro buchstäblich ins Gesicht geschmissen.
    »Sicher.« Mit einer tröstenden Geste, die ebenso sehr ihr selbst galt, strich sie über Anitas Haar. »Gehen wir rein tanzen?«
    »Wer führt?«
    »Die Einzige von uns beiden, die den Unterschied zwischen tanzen und hopsen kennt.«
    Anitas Antwort beschränkte sich auf eine nachäffende Pantomime.
    Der Tanzboden war direkt neben der Bühne für die Kapelle. Weiße Papiergirlanden zierten das Geländer. Ein Dutzend Tänzer mischte Walzerschritte mit Foxtrott und folgte eher der eigenen Stimmung als dem Takt der Musik. Strammwadige, kugelbäuchige, rotwangige Paare, keine bekannten Gesichter darunter, aber zwei weitere weibliche Gespanne. Der gemeine Bergenstädter schunkelte lieber. Das Zelt wirkte von oben nochvoller und rauchiger, die Bergenstädter Pils- Schilder über dem Ausschank verschwanden beinahe im bläulichen Nebel. Sie sah ihren Mann auf der Bank stehen, ein Glas in der Hand, aber seit dem Reinfall mit dem Hochzeitswalzer hatte sie versprochen, ihn nicht noch einmal auf eine öffentlich einsehbare Tanzfläche zu zwingen.
    Sie fielen aus der Reihe mit ihren kurzen Röcken und Anita in ihrem miederähnlichen Oberteil. Kaum hatte sie ihrer Freundin die Hand um die Hüfte gelegt und ihr ermahnend das Knie des Startbeins gegen den Oberschenkel getippt, sagte die auch

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