Grenzgang
massieren, trinken Wasser und spucken es wieder aus. Die Kamera fährt über angespannte, verschwitzte Gesichter, über die gefüllten Ränge des Stadions und dann plötzlich hinauf über das Dach, in einem weiten Schwenk über die flache, sonnengetränkte Landschaft am westlichen Stadtrand. Grunewald, sogar den Wannsee glaubt Weidmann am Horizont zu erkennen. Einzelne weiße Segel. Und was der unerwartete Anblick in ihm auslöst, ist die nackteste Form von Heimweh nach Berlin, die er sich erinnern kann je empfunden zu haben: Irgendwo dort könnte er sitzen in einer geschmackvoll eingerichteten Altbauwohnung, bei geöffneter Balkontür, durch die der Verkehr und die Abendluft hereinwehen und ihm das Gefühl geben, mit etwas verbunden zu sein, worum er sich nicht kümmern muss. Etwas, das nur da ist für den Fall, seine Aufmerksamkeit sollte nach einem Objekt verlangen, auf die Art, wie nur eine Großstadt da ist: eine Ansammlung von Fremden, eine Mischungvon Milieus, ein Konglomerat aus Möglichkeiten. Er würde Seminararbeiten korrigieren und hin und wieder einen Blick zum Fernseher werfen, um zu verfolgen, was sich vier oder fünf Kilometer Luftlinie entfernt von seiner Wohnung gerade tut. Im offenen Hemd. Später ein Bier im Schleusenkrug oder wo man sonst gut sitzen kann, während der Himmel verlischt. Der Name für diese Daseinsform lautet ›Leben‹, und erst jetzt fällt ihm auf, dass Granitzny ihn die ganze Zeit über von der Seite ansieht, als erwarte er eine Antwort auf seinen absurden Vorschlag.
»Haben Sie eigentlich nie das Gefühl«, fragt Weidmann, »zu groß zu sein für die Umgebung, in der Sie leben?«
»Zum Teufel mit Ihnen, Weidmann! Es gibt Tage, da komm ich mir vor wie Gulliver, also verschonen Sie mich mit diesen pseudogehaltvollen Nachfragen. Wollen Sie Stellvertretender Schulleiter werden, ja oder nein?«
»Nein.«
»Sie bekommen A 15, können früher in Pension gehen und dort leben, wo Sie leben möchten.«
»Nein.«
»Was ist Ihr Plan: Hier in aller Stille eingehen? Sie haben noch achtzehn Jahre vor sich, viel Spaß.« Unablässig, als sprudelte im Gewirr seines fettig lockigen Haares eine geheime Quelle, läuft Granitzny der Schweiß über Stirn und Schläfen. Sein Gesicht ist von einem Rot der dunkleren Art überzogen.
»Vielleicht könnten wir ein Fenster öffnen?«
»Bitte sehr, die Dame im Polo ist ja weg. Sie haben nichts mehr zu befürchten.«
»Zum Teufel mit Ihnen , Granitzny.«
»Klar.« Der Rektor leert sein Glas, erhebt sich schwerfällig und geht zum Fenster. »Zum Teufel mit uns allen. Ich gehe davon aus, es hat nichts mit der Schule zu tun. Mit dieser Geschichte von neulich.«
»Haben Sie mich deshalb zum Fußball eingeladen? Um mir das zu sagen?«
»Sie sollten sich das mit der Stelle noch mal überlegen. Sagen wir: Bis zum Ende der Sommerferien brauche ich eine Entscheidung.« Dann weht eine laue Abendbrise ins Büro, die Schützen beider Mannschaften haben im Mittelkreis Aufstellung genommen, und die Torhüter gehen in Richtung des ausgewählten Tores. Granitzny nimmt Platz und gießt sich den nächsten Cognac ein, ohne Weidmann noch einmal anzubieten. Zehn Minuten später ist es entschieden: Die einen bilden einen wogenden Freudenknäuel, und die anderen vergraben die Gesichter in den Händen, und Weidmann tritt aus dem Eingang der Schule in den frühen Abend. Die Stimme des Reporters kommt aus dem offenen Fenster des Rektorzimmers, erste Interviews werden geführt, und Granitzny sitzt wie Buddha im bläulichen Schimmer.
Vor allem hat er Durst. Vom Marktplatz her ertönen Jubel und Hupen, ein Autokorso scheint sich zu formieren. Offenbar müssen alle Ausdrucksformen der Freude, die jemals im Fernsehen zu sehen gewesen sind, irgendwann auch in Bergenstadt ausprobiert werden. Gesetze scheinen am Werk zu sein in der Art, wie Leute plötzlich diese Weltmeisterschaft nicht feiern, sondern sich ihr hingeben, als wäre der freie Wille eine Erfindung, die der Welt noch bevorsteht. Aber welche Gesetze das sind, wer sie aufgestellt hat und welche Mechanismen ihre Einhaltung gewährleisten, wüsste Weidmann nicht zu sagen. Er geht über die Fußgängerbrücke und kann anhand des Hupens die Route des Autokorsos verfolgen. Merkwürdige Gleichförmigkeit jedenfalls, die sich einstellt, wenn man den Leuten sagt: Macht, was ihr wollt.
Richtung Ortsausgang sind ebenfalls ein paar motorisierte Fahnenschwinger unterwegs. Weidmann geht den Kornacker entlang, überlegt ihn
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