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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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hervorschauen. Er sitzt und schaut und wartet auf den Moment, da sie mit der freien Hand ihre Haare zurückstreichen wird, sachte gegen die Strömung der Nacht.
    »Es liegt nichts Beschämendes darin, alleine zu sein«, sagt er und erschrickt im selben Moment über seine Worte.
    Ihr Rücken wird sehr gerade.
    »Das glauben Sie nicht wirklich.«
    »Nein. Aber es stimmt trotzdem. Es stimmt, weil aus demGegenteil nichts folgt, das einem weiterhelfen würde. Wir neigen bloß dazu, uns viel mehr Verantwortung aufzuhalsen, als uns eigentlich zukommt. Und dann machen wir aus der Verantwortung Schuld. Schließlich Selbstvorwürfe. Wir schämen uns, obwohl niemand, der bei klarem Verstand ist, von uns diese Scham verlangen würde. Denn dass wir alleine sind, bedeutet ja gerade, dass es niemanden interessiert, ob wir uns schämen oder nicht. Verstehen Sie, was ich meine?«
    Ohne zu zögern, sagt sie »Ja«, erkennt die aufrichtige Intention seiner Worte an und sieht von einer Prüfung des Inhalts ab. Ein großer Schritt nach vorne. Als sie kurz darauf sein Bad benutzt, geht er in die Küche und legt eine zweite Flasche Riesling ins Eisfach. Die letzte Stunde vor Mitternacht ist angebrochen. Den ganzen Abend haben sie grölende Heimkehrer in den Straßen singen gehört. Lauthalsige, vollmundige Triumphgefühle in Schwarz-Rot-Gold. Morgen werden die Zeitungen vom ersten Sieg seit vielen Jahren über einen sogenannten Großen schreiben, als wäre die deutsche Fußballnationalmannschaft ein Fünftklässler, der seit der Einschulung regelmäßig auf dem Schulhof verkloppt wird. Ein kollektiver Tommy Endler sozusagen. Weidmann geht zur Küchenspüle, wäscht sich das Gesicht und spült den Mund aus. Entweder sie kommt aus dem Bad und kündigt ihren baldigen Aufbruch an oder …
    Oder sie werden es tun, Punkt. Als er die Badezimmertür hört, verschränkt er die Arme und schließt für einen Moment die Augen, hört Kerstin Werners barfüßige Schritte im Wohnzimmer und dann in der Balkontür ihre erstaunte Stimme:
    »Nanu?«
    »Hier«, ruft er durch den Flur.
    Vielleicht ist es, weil sie barfuß läuft: Als sie durchs Wohnzimmer zurück in die Küche kommt, weiß er genau, dass sie nicht vorhat, demnächst nach Hause zu gehen. Und dass ihr so klar ist wie ihm, worin die Alternative besteht. Ein Gedanke ohne Triumph, beinahe ohne Erregung. Zur hintergründigen Banalität des Ganzen gehört schließlich, dass man vorher nichtweiß, ob man sich hinterher besser oder schlechter fühlen wird. In welche Art von Stille man aus dem Taumel erwacht und ob Taumel überhaupt das richtige Wort ist für die beim ersten Mal immer jähe Intimität.
    »Ich hab noch eine Flasche kalt gestellt«, sagt er. »Dauert einen Moment.«
    Sie nickt und steht einen Meter entfernt von ihm. Reglos in Reichweite. Verreibt die Feuchtigkeit ihrer Hände und sagt:
    »Sie hatten einen langen Tag. Sie müssen sagen, wenn ich gehen soll.«
    »Ich will nicht, dass Sie gehen.«
    Sie legt den Kopf schief, zum ersten Mal offen kokett, und der kleine Schritt, den sie auf ihn zu macht, reicht aus, um ihre Hände zusammenzuführen. Die Kuppen ihrer Finger streifen über seine Handflächen, bevor sie sich mit den anderen Fingern verschränken. So stehen sie still für einen Moment, ein Zwei-Personen-Rahmen für den enger werdenden Raum zwischen ihren Körpern. Spielraum. Der Impuls zurückzuweichen wird darin gefangen und löst sich auf. Bis gerade eben hätte er sich noch so oder anders entscheiden können, jetzt sind sie für einander unausweichlich geworden. Nah genug, dass er außer Parfüm das Aroma ihrer Haut und Haare erahnt, ein Fluidum aus offenen Poren. Bis zu ihren Handgelenken reichen seine Daumenspitzen, fahren über Puls und Sehnen, erahnen das Echo eines fernen Herzschlags. Wegen der Dunkelheit in der Küche bleibt ihr Blick höhlenhaft, ein Glimmen, das er als Bitte um Sanftheit versteht.
    Dann zerfällt die Wirklichkeit ganz unauffällig in ein harmonisches Zusammenspiel von Nuancen. Die Lust, weiß er, ist vorgelaufen und wartet geduldig auf ihren Einsatz. Einstweilen erweisen sich Hände als Organe der Weisheit, die nach kurzer Begegnung wieder getrennte Wege gehen: Seine ihre Unterarme entlang, ihre seinen Oberkörper hinauf. Zwischen ihnen schmilzt der Raum und schwillt die Zeit, füllt jeden Moment bis zum Platzen und geht dann doch so unmerklich inden nächsten über, als wäre bereits alles eins. Auf Schulterhöhe erlaubt er seinen Fingerspitzen einen

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