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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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seiner Nebenbemerkungen – sie kann sich das alles genau vorstellen. Und wenn er so intuitiv weiß, was sie lustig findet, denkt sie, dann sitzt ein Teil derselben Intuition vielleicht auch in seinen Händen. Hat schließlich beides mit Sensibilität zu tun und ist das Gegenteil jener Tollpatschigkeit, die sie an Männern nicht ausstehen kann.
    Im Übrigen weiß sie: Ihrem Lachen ist anzusehen, dass es zwar nicht gespielt, aber auch nicht spontan ist, sondern der bewusste Versuch, Weidmann für seine Erzählung ein Dankeschön zu bezeugen. Automatisch moduliert sie ihr Lachen, und er reagiert ausgesprochen präzise: Beschränkt die Imitation auf ein paar Grimassen und macht ironische Kommentare, sowohl zum Spiel als auch zu Granitznys Art, sich dafür zu begeistern. Mit anderen Worten: Sie flirten. Erste kleine Einsätze auf Rot werden gewagt. Kassiber mit wortlosen Subtexten gehen hin und her. Und so plötzlich wie die Atmosphäre des Gesprächsschlägt ihre Stimmung um in eine Freude, die vielleicht ebenso naiv ist wie die des fußballbegeisterten Schulleiters. Laue Nacht und kühler Wein, und der Mann ihr gegenüber trifft den Ton mit einer Sicherheit, die weder traumwandlerisch noch zufällig ist, sondern Ausdruck seiner Feinfühligkeit. Gepaart mit Intelligenz. Der Balkon ist eine Gondel, beginnt leise zu schaukeln, so wie die Sessel des Lifts auf der Sackpfeife.
    »Sie können gut erzählen«, sagt sie, als er fertig ist.
    »Diese Frau, Viktoria«, erwidert er ohne Übergang, »hatte ich vorher nie getroffen. Eine Bekanntschaft aus dem Internet. Der Club als Treffpunkt war ihre Idee, ich hatte den oder einen anderen Ort dieser Art vorher noch nie besucht. Tja.« Sein Schulterzucken wirkt nicht ratlos, sondern eher so, als wollte er durch kurze Bewegung testen, ob eine gewisse Last von ihm genommen sei. Bitte sehr, Sie wollten es ja unbedingt wissen. Sind Sie jetzt zufrieden?
    Wieder bleibt ihr nur ein Nicken. Die Gondel steht, der Wind weht weiter. Betrogen fühlt sie sich nicht, aber überrumpelt, und für einen Moment hat sie einfach nicht das passende Gesicht parat. Irgendwo in den Lahnwiesen brennt ein Lagerfeuer. Und war da eine Andeutung von Schlussstrich in seiner Bemerkung?
    »Finden Sie nicht auch«, fragt er, »dass dieses Wort ›Internetbekanntschaft‹ einen merkwürdigen Klang hat? Auf entlarvende Weise zeittypisch, unernst und irgendwie secondhand? So eine Art Symptomwort.«
    »Besser als ›Katalogbekanntschaft‹«, sagt sie ohne nachzudenken, während das Wort ›Internetbekanntschaft‹ in ihr genau die Art von nebulösem Unbehagen verbreitet, auf die er angespielt hat. Will er sich ihr erst einmal von seiner drittbesten Seite zeigen, um nicht eines Tages gezwungen zu werden, seiner besten treu zu bleiben? Noch einmal, und diesmal mit einer mehr versöhnlichen als fordernden Geste, schiebt sie ihm ihr leeres Glas hin. Der Alkohol dämpft ihre Enttäuschung, erstickt sie geradezu im Keim neuer Hoffnung. Vielleicht wollte er das nurhinter sich bringen, um nicht später in einem noch ungünstigeren Moment drauf gestoßen zu werden.
    »Zum Wohl«, sagt sie. Sie hat ein Kind großgezogen, sie weiß, was Geduld heißt. Aber mit secondhand wird sie sich nicht zufriedengeben.

    Erst später, als sie erzählt, wie es zu ihrem Besuch im Club kam, beginnt er dunkel zu ahnen, dass er sich noch einmal getäuscht hat. Immer ist sie ihm einen Schritt voraus, besonders dann, wenn er glaubt, sie zu überraschen. Bemerkungen, mit denen er gehofft hat, einen Effekt zu erzielen, laufen ins Leere ihres Nickens, so als würde er genau dann einem bestimmten Bild von sich entsprechen, das sie vorzöge revidiert zu sehen. Zwischendurch gibt ihr Lächeln ihm kleine Navigationshilfen, aber die meiste Zeit segelt er blind auf einem immerhin freundlichen Gewässer, fühlt sich ratlos, aber nicht unwohl und sagt sich gelegentlich, dass er schließlich kein Ziel verfolgt. Alkohol war schon immer ein verlässlicher Komplize im schwierigen Geschäft des Selbstbetrugs.
    Und Kerstin Werner sagt:
    »Natürlich war ich neugierig, aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass diese Neugier selbst bereits, wie Sie sagen würden, eine Art Symptom ist. Ich meine: Unter anderen Umständen …« Sie hat sich inzwischen seitlich in den Stuhl geschmiegt und beide Füße auf die Kante der Sitzfläche gelegt. Eine Hand hält das leere Glas und die andere den Saum des Kleides, so dass die hellen Gipfel ihrer Knie nicht darunter

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