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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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verzichten, mir so nahe zu kommen, dass es für Sie relevant würde zu wissen, was für ein Mensch ich eigentlich bin? Was für ein Leben ich lebe? Könnten Sie mir bitte so begegnen, als befänden wir uns immer noch in diesem Club, wo die einzig relevante Frage lautet: Wie mögen Sie’s am liebsten?
    »Ich meine: vorläufig«, sagt er leise.
    »Gut.«
    »Nieder-Enkbach.« Er schüttelt den Kopf, findet sein Kopfschütteln selbst unangemessen und tut so, als vertreibe er ein lästiges Insekt. Falls er geglaubt hat, Übung zu besitzen in dieser Art von Konversation, gibt ihm ihr erneutes Schweigen Gelegenheit zu bemerken, dass all das Techtelmechtel in dämmrigen Weinstuben seiner gegenwärtigen Situation so ähnlich war wie eine Brandschutzübung an der Schule dem Geruch echten Feuers. Und das bedeutet: Einfach geschehen lassen reicht nicht. Man kann die Dinge auf sich zukommen lassen, aber wenn sie da sind, muss man reagieren.
    Er holt Luft, aber sie kommt ihm zuvor:
    »Haben Sie gewusst, dass ich nicht alleine da war, sondern … Ich meine: Haben Sie sie gesehen?«
    »Beim Rausgehen, ja.«
    »Sie werden das für sich behalten, nicht wahr?«
    »Selbstverständlich. Und Sie schulden mir wirklich keine Erklärung. Wir sind da in eine gegenseitige Mitwisserschaft geraten, die uns in meinen Augen zu nichts verpflichtet außer Diskretion.«
    Auch das nimmt sie mit einem Nicken zur Kenntnis, das nicht unbedingt Zustimmung bedeuten muss. Eine Strähne ihres blonden Haares wird vom Zeigefinger hinters Ohr geführt.
    »Trotzdem«, sagt sie, »und ohne indiskret sein zu wollen, aber Sie meinen eigentlich nicht, ich schulde Ihnen keine, sondern: Sie würden sich ungern mit einer belasten, oder? Einer Erklärung. Ich frage nur, weil Sie den Satz schon mal gesagt haben, auf meiner Terrasse, als es um Daniel ging.«
    »Dann beantworten Sie mir eine Frage: Wie viel von dem,was wir tun, können wir wirklich erklären? Ich meine: So, dass es nicht nur andere überzeugt, sondern auch uns selbst.«
    »Wenig. Aber das heißt nicht, dass sich der Versuch nicht lohnt, oder?«
    Für einen Moment erinnert sie ihn so sehr an Konstanze, dass es ihm wie eine Anmaßung vorkommt. Wie sie ihm Recht gibt und trotzdem Recht behält, auf eine Art, die nur Frauen beherrschen, nämlich im Wortsinn: als wäre es vollständig ihr Recht, und sie teilte ihm die Portion zu, die sie für angemessen hält. Eine kleine Portion natürlich, Männer kriegen im eigenen Interesse nur teelöffelweise von dieser Medizin mit Suchtpotenzial. Und das nachgeschobene ›Oder‹ ist auch keine Frage, sondern einer dieser leichten Schläge auf den Hinterkopf, die angeblich die Intelligenz erhöhen. Aber was er empfindet, ist nicht Ärger, sondern die fast nicht zu bezwingende Lust zur Kapitulation. Auch die kommt ihm bekannt vor, und deshalb gibt er ihr nicht nach – im eigenen Interesse.
    »Möchten Sie es also versuchen?« Die ganze Woche über hat er einen bestimmten Text vor sich gehabt oder zumindest eine bestimmte Art, ihr den vorzutragen, und zu keinem Zeitpunkt sind ihm Zweifel gekommen, seine Worte würden ihr willkommen sein und sie beruhigen. Eine Woche lang hat er sich in Gedanken an die verschreckte Frau gewandt, die ihr Leben gegeben hätte dafür, hinter der Holztheke des Bohème im Boden zu versinken. Hat sich selbst in der Rolle des Trösters gesehen und sie an seine Schulter gelehnt, zu Tränen gerührt von so viel Verständnis. Aber er hat sich getäuscht – Kerstin Werner stellt Bedingungen, bevor sie sich trösten lässt. Statt seine Diskretion zu würdigen, leuchtet sie hinein in diesen doppelten Boden zwischen dem, was er sagt, und dem, was er meint. Oder was sie glaubt, was er meint. Statt einfach ihm zu glauben. Frauen!
    »Nein danke«, sagt sie kurz und bestimmt.Weit zurückgelehnt sitzt er ihr in seinem Stuhl gegenüber, als würde er auf diesem winzigen Balkon auf maximale Distanz gehen wollen. Wie immer ist sie zu forsch, wenn sie versucht, im tiefen Gelände ihrer eigenen Unsicherheit voranzukommen. Zu direkt. Dabei fühlt sie sich gar nicht unwohl in seiner Gegenwart, höchstens ungeduldig, bestrebt, ihm etwas mitzuteilen, worüber sie sich aber selbst nicht ganz im Klaren ist. Warum muss das so kompliziert sein, möchte sie ihn fragen, wo sie beide doch wissen, dass dieser dämliche Abend im Pärchenclub auf ihnen liegt wie ein Schatten, den sie durch ein paar offene Worte vertreiben könnten. Es müssten gar keine intimen Geständnisse

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