Grenzgang
sein. Sie ist nicht wild darauf zu erfahren, was ihn, wie er sagt, nach Nieder-Enkbach ›getrieben‹ hat. Lieber würde sie einfach erzählen und zuhören, schließlich ist er der Einzige, mit dem sie überhaupt über diesen Abend sprechen kann, aber Männer tun immer so, als wäre nackte Wahrheit die einzig zugelassene Form von Ehrlichkeit. Als müsste es immer gleich weh tun. Warum kann sie nicht mit ihm reden wie mit Karin auf der Rückfahrt nach Bergenstadt: Tastend und vorsichtig, in kurzen Sätzen mit langen Pausen, um Schonung bemüht und dennoch offen. Karin war ebenso durcheinander wie sie, als sie endlich ins Auto stieg, die Hände aufs Lenkrad legte und eine Weile schweigend ins Leere stierte. Reagierte mit keinem Wort, als Kerstin ihr erzählte, der Klassenlehrer ihrer Kinder sei ebenfalls im Müller’schen Partykeller gewesen. Eine Minute lang musste sie in der Handtasche suchen, bevor sie ihren Schlüssel fand und den Wagen durch menschenleere Gassen Richtung Ortsausgang lenken konnte. Und wenn schon, sagte sie erst, als sie zwischen grünen Schallschutzwänden durch Gießen fuhren.
Und jetzt?, wollte Kerstin wissen und betrachtete mehrere Kilometer die Hände in ihrem Schoß, bevor vom Fahrersitz die Antwort kam: Weiß ich auch nicht. Da lag draußen wieder die bedrückende Dunkelheit nächtlicher Felder und machte das Schweigen unerträglich. Hast du wirklich …? Sie fragte nicht aus Neugierde, sondern aus Notwendigkeit, und Karin Preissverstand das und sah sie zum ersten Mal an beim Sprechen: Glaub schon.
»Jedenfalls«, setzt sie an, ohne zu wissen, ob ihre Worte passen auf das, was zuletzt gesagt wurde und was ihr sowieso entfallen ist. Hauptsache reden. »… beruhigt es mich zu erfahren, dass diese Viktoria nicht Ihr Typ ist. Falls ich so viel schließen darf aus …« Darf sie wahrscheinlich nicht, und woraus auch, aber er nickt sofort.
»Absolut.«
Ein Lächeln schenkt sie ihm dafür, mehr hat sie gerade nicht.
Und er lächelt zurück, der verschlossene Veilchen-Bringer. Immerhin. Sie weiß nicht, ob es seine Schuld ist oder ihre, dass ihr Gespräch so schnell diesen Weg eingeschlagen hat, der ausweglos in eine Sackgasse führt. Mitten in einer lauen Sommernacht sitzen sie und trinken Wein, aber der Campingtisch steht zwischen ihnen wie der Schlagbaum einer Grenze.
»Ich war an der Schule«, sagt sie, »aber ich habe mich nicht getraut reinzugehen. Heute Nachmittag.«
Irgendwann, mitten auf der Landstraße, hat Karin Preiss angehalten, ist ausgestiegen und hat das Verdeck des Autos geöffnet. Ist nicht mal rechts rangefahren dazu. Etwas Melodramatisches lag in diesem abrupten, wortlosen Tun, fand Kerstin, aber danach war es besser. Windiger. Baumwipfel, Sterne, Laternen, sie saß mit dem Kopf im Nacken auf dem Beifahrersitz, für die Dauer einer Stunde beruhigt von der Gleichmäßigkeit der Bewegung. Und würde der Balkon nicht an der Vorderfront dieses Hauses kleben, denkt sie, sondern frei durch die Nacht gondeln, wäre es auch jetzt leichter.
»Ich hab Sie gesehen, und ich hätte natürlich rauskommen sollen, aber dann hat Herr Granitzny mich eingeladen, bei ihm im Büro das Fußballspiel zu sehen. Was auch immer ihn dazu bewogen haben mag.«
Eine Änderung seines Tonfalls glaubt sie zu bemerken. Etwas mehr Einladung, ein bisschen weniger Abgrenzung.
»Sie meinen: Herr Granitzny interessiert sich für Fußball? Nein.«
»Nein, natürlich nicht. Er … was ist das Wort? Er bezeugt seine Anteilnahme an Dingen, die gesellschaftliche Relevanz besitzen, und schafft es dabei, vor sich selbst zu verbergen, dass er in Wahrheit mit Leib und Seele bei der Sache ist.«
Sie sind beide dankbar für den Themenwechsel, und während Weidmann erzählt, fühlt Kerstin sich tiefer in den Balkonstuhl sinken. Von den Bäumen im Landratsamtpark weht in Brisen kühlere Luft heran wie aus einer geheimen Quelle. Vorhin, anlässlich ihrer deplatzierten Bemerkung über Viktoria, schien ihr, Thomas Weidmann unterdrücke den Drang, die Anspannung des Moments in einem Lachen aufzulösen, auf Kosten dieser Frau, über die er ja ebenso gut einen billigen Witz hätte machen können. Hat er aber nicht, und jetzt im Nachhinein ist es diese Souveränität, die ihr so männlich an ihm vorkommt.
»Sie hätten ihn beim Ausgleich sehen sollen.« Er ist kein guter Imitator, aber ein genauer Beobachter: Granitznys Torjubel, die Schweißarbeit seiner Konzentration und die künstlich aufrechterhaltene Nonchalance
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