Grenzgang
Blick unter ihr Kleid, ein kurzes Balancieren über ihr Schlüsselbein. Schmale Schultern, ein schlanker Hals und in ihrer Haltung so wenig Gegenwehr wie Forderung.
Er weiß, dass ihr Blick auf ihn warten wird in der nächsten kleinen Pause und dass eine Hemmschwelle bleibt, solange sie nicht reden. Sie wird ihn nicht noch einmal küssen so wie damals auf der Brücke. Unbedacht und ohne Wollen. Und dann muss er lachen, als er einen Hauch ihres Atems in seinem Gesicht spürt, noch bevor sie zu sprechen ansetzt. Den Geruch seiner Zahncreme erkennt er, und er kann sich nicht vorstellen, dass Kerstin Werner in ihrem ärmellosen Kleid eine Zahnbürste versteckt hat.
Danke für die Veilchen, hat sie sagen wollen, als Andeutung, dass die gegenwärtige Annäherung eine Vorgeschichte besitzt, deren Kenntnis sie miteinander teilen. Den ganzen Abend hat sie auf eine Gelegenheit gewartet, ihm diesen Satz zu sagen, um die Dinge ins Rollen zu bringen, und obwohl das jetzt überflüssig geworden ist, will sie die Worte trotzdem noch unterbringen in der kurzen Pause vor dem Kuss. Aber Weidmanns Lachen lässt sie innehalten.
»Wenn Sie jetzt lachen, werde ich hinter Ihrem Rücken nach einem Küchenmesser tasten und Sie erstechen.« Tatsächlich streckt sie die Hände aus und schmiegt sich enger in die Umarmung. Die Pause ist ihr nicht unangenehm, sondern kommt ihr vor wie ein kurzer Dreh an einem Überdruckventil. Seine Arme schließen sich um ihren Rücken. So haben sie damals auf der Brücke gestanden, in der Stille nach dem Kuss, und wieder registriert sie mit Wohlbehagen seine Körpergröße, das Zusammenstimmen ihrer Proportionen. Genug Masse, um sich dagegenzulehnen und dem Spiel seiner Finger auf ihrem Rücken zu folgen, dem kurzen Eintauchen seiner Hände unter die Oberfläche aus Stoff. Außerdem eine Oberfläche aus Zeit, angesammeltund abgelagert, und was darunterliegt, ist ihr selbst nicht mehr so vertraut wie früher. Jahre des Alleinseins stehen zwischen ihr und der Bereitschaft, sich das Kleid vom Leib zu reißen, um mit einem Mann ins Bett zu gehen, den sie kaum kennt. Und vor ihr steht Thomas Weidmann und scheint das genau zu wissen.
»Nicht nötig«, sagt er. Sie spürt das Vibrieren seiner Stimme und seinen Atem auf ihrem Haar. Dann fährt sein Kinn über ihren Scheitel, hin und her, und sie fühlt sich ermutigt zu weiteren kleinen Fingerschritten auf seinem Rücken. Etwas mehr Lust wäre ihr lieber, ihrem Wohlbehagen fehlt das Drängende. Sie will mehr wollen als diese Umarmung und mehr Mut haben, als das Streicheln seines Rückens erfordert. Ihr Mund legt sich auf seinen Hals, findet die erste Frucht des fremden Landes: einen Adamsapfel, der unter ihrer Berührung zu zucken beginnt. Sein Griff wird fester, und sie glaubt eine Bewegung in seinem Schoß zu spüren. Halb geöffnet warten seine Lippen, und als sie zum ersten Mal seine Zungenspitze in ihrem Mund spürt, hat sich die Umarmung in Vorspiel verwandelt. Es ist nicht Ungeduld, was sie nach vorne drängt, eher die Suche nach dem Punkt, da der Lauf von der Bewegung des Bodens selbst aufgehoben wird. Kleine Anflüge von Panik schlagen ihr entgegen wie dünne Äste in der Dunkelheit. Vielleicht geht alles noch zu schnell, aber es ist ihre eigene Schuld: Sie, nicht er, hat vorhin das Signal zum Weitermarsch gegeben. Jetzt legen sich seine Hände um ihre Hinterbacken, und bestimmt überrascht ihn der fehlende Slip.
Gegen sein kurzes Zögern intensiviert sie den Kuss. Seine Hand tastet sich weiter ihr Bein hinab, verharrt kurz am Saum des Kleides, und als sie mit einem Einatmen durch geschlossene Zähne antwortet, tastet sie sich an der Innenseite wieder hinauf. Und wieder hinab. Und beim nächsten Aufstieg hofft Kerstin, die Hand möge später umkehren … oder gar nicht. Sie nimmt seinen Kopf in ihre Hände, findet mit der Zunge sein Ohr und freut sich über den ersten tieferen Laut, der seiner Kehle entsteigt. Gut fühlt es sich an, ein Männerhemd zu öffnen und mit der Zunge zur Spitze des behaarten Vs vorzudringen, das derStoff freigibt. Auch ohne die harten Muskeln, die sie dort früher einmal empfangen haben. Stattdessen die tröstende Qualität der Nicht-Perfektion, das Versprechen einer Nachsicht, die gewähren muss, wer sie selbst in Anspruch nimmt. Es ist eine Lust der warmen, sanften Art, die jetzt in ihr aufsteigt, aber genug für den nächsten Schritt.
»Ich würde dir folgen«, sagt sie leise, »wenn du mir den Weg ins Schlafzimmer
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