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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Kopf zu bewegen, als picke sie ihrem Gegenüber unsichtbare Körner aus dem Gesicht. Sie ist schon Sekretärin gewesen, als Weidmann hier noch zur Schule ging, das heißt nicht hier, sondern im alten Schulgebäude in der Rheinstraße, das seit dem Umbau das Rathaus beherbergt. Strenger Dutt und graue Strickweste, und niemand an der Schule kann sich vorstellen, wie es nach den Sommerferien sein wird, das Sekretariat zu betreten, ohne Frau Winterlich darin.
    »Hormone«, gibt sie jetzt zu bedenken und dreht ihre spitze Nase in Weidmanns Richtung. »Sind alles die Hormone. Milch?«
    Weidmann winkt ab. Zwanzig Minuten später tritt er hinaus auf den hinteren Schulhof, in den Glanz der Vormittagssonne auf immer noch taufeuchten Lahnwiesen. Bis zum Rand des Schulhofs geht er, steigt über den meterhohen Rasenwall gegen das Frühjahrshochwasser und folgt dem schmalen Teerweg Richtung Turnhalle. Von der Endgültigkeit abgesehen, ist der Übergang vor allem tröstlich – das Verschwinden der Sehnsucht und der Eintritt in eine Art Leere, die einen mit viel weniger Angst erfüllt, wenn man erst mal drin ist. Es ist deine alte Schwarzseherei, bloß dass sie jetzt einen Zug ins Zynische bekommt. Konstanze glaubt nämlich, dass Zynismus die letzte Stufe vor der Verzweiflung ist und nicht etwa die erste danach. Außerdem kann eine junge Mutter mit Resignation nichts anfangen, egal wie souverän die daherkommt, und vielleicht hat er’s auch einfach falsch erklärt. Hat das Gefühl, den Trost darin übertrieben ausgemalt und sich am Ende verraten – zum Beispiel damit, keine Fotos von dem Kleinen sehen zu wollen.
    Von der Umgehungsstraße weht Verkehrslärm herüber, nicht im kontinuierlichen Rauschen der Stoßzeiten, sondern als das tropfenweise Vorbeiziehen einzelner Wagen. Alle sind auf der Arbeit oder zu Hause. Weidmann sieht auf die Uhr: Für den üblichen Freistundengang durch die Lahnwiesen bleibt keine Zeit mehr, also passiert er die Turnhalle und geht auf eine kleinehalbkreisförmige Fichtengruppe zu. Auf der Holzbank in deren Mitte sitzen manchmal knutschende Schüler, aber jetzt ist sie frei.
    Vielleicht täuscht er sich auch mit diesem Gefühl, mit dem Trost ebenso wie mit der Endgültigkeit, mit allem eben. Vielleicht ist es nicht nur Melancholie, mit der diese verdammte Sonne ihn erfüllt. Die Hecken der Wochenendgrundstücke schlagen aus, die Luft unter den Bäumen riecht nach Rinde und Moos. Scheißspiel. Das große Tamtam des heraufziehenden Sommers. Entlang der Lahn stehen Pappeln Spalier, scheinen sich aufzulösen im gleißenden Licht. Alles schon auf Grenzgang gemacht, sogar das Grünzeug.
    »Reden Sie also bitte mit der Mutter. In ihrer Eigenschaft als …« Ein Lächeln und eine kurze Pause, in der Granitznys Schalk sich das Wort ›Junggeselle‹ verkneift. »Als Klassenlehrer.«
    Beim Maibaumaufstellen vor zwei Wochen sind sie einander begegnet, flüchtig nur, und trotzdem hat sich sein Eindruck von damals erneuert: dass sie eine Fremde ist im Ort, anders als er, aber genauso fremd. Immer noch zugezogen nach so langer Zeit, ohne den ortsüblichen Zungenschlag, der ihn auch nach zehn Jahren in Berlin noch mit der Frage konfrontiert hat: Wo kommen Sie denn her? Mit dieser skeptischen Betonung auf dem ›Sie‹. Es stimmt, dass sie gut aussieht, auf unauffällige Weise, ein wenig blass und ein wenig so, als lachte sie nicht oft genug. Im Fehlen von Schmuck oder Schminke hat er eine Eitelkeit eigener Art zu entdecken geglaubt, als würde sie sagen: Für euch nicht.
    Also wird er mit ihr reden. Nach einem Blick auf die Uhr steht er auf. Von dieser Bank hinter der Turnhalle ist nur das letzte Ende der Parkplätze zu sehen, und als er einen Schritt um die Fichten herum macht, sieht er einen neuen, metallic-blauen Saab mit offenem Verdeck ausrollen und die letzte Parkbucht besetzen. Offenbar hat Granitzny gleich nach ihrem Gespräch zum Hörer gegriffen. Jürgen Bamberger steigt aus, piept dasAuto zu und wirft einen Blick die sonnigen Hänge hinauf, bevor er Richtung Eingang verschwindet.

    * * *

    Den Veilchenstrauß sieht sie erst, als sie mit einem Fuß drauf steht. Sie atmet diesen unverwechselbaren Duft ein und blickt an sich herunter, weil sie weicher aufgetreten ist als erwartet, und da liegen sie vor ihr: eine Handvoll violetter Blüten, die Stiele in ein feuchtes Taschentuch geschlagen – nun alles zerknautscht – auf der Fußmatte vor ihrer Tür. Kerstin hebt den Fuß, steht starr vor Verwunderung und

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