Grenzgang
blickt die Straße hinauf und hinab. Verlassen ruht der Rehsteig in der Sonne. Bei Brunners, ihren Nachbarn zur anderen Seite, steht ein Kirschbaum in voller Blüte, rund und weiß wie ein aufgepfropfter Schneeball. Nirgendwo ein Mensch zu sehen. Sie nimmt den Strauß auf und hält sich die Blüten unter die Nase. Anita hat ihr früher Blumen zum Geburtstag geschenkt, aber die lebt am Starnberger See und beschränkt sich am fünfzehnten Mai auf Anrufe, und von den wenigen Menschen, die ihr normalerweise zum Geburtstag gratulieren, leben überhaupt nur zwei in Bergenstadt; ihre Mutter scheidet aus, und der Gedanke, Daniel könnte vor der Schule am Rehsteig vorbeigekommen sein und ihr einen stummen Blumengruß vor die Tür gelegt haben, lässt zwar ihr Herz höher schlagen, verliert darum aber nichts von seiner Abwegigkeit.
Kerstin geht ins Haus zurück, stellt nach einer Inspektion des Taschentuchs die Veilchen in eine Glasvase und diese anschließend erst auf die Küchenanrichte, dann auf den Esszimmertisch. Ein violettes, duftendes Fragezeichen. Umso rührender ob seiner Verwundung durch ihre unachtsamen Füße. Der Anblick begleitet sie auf dem Weg den Kornacker hinunter, am alten Landratsamt im Park vorbei, zu König’s – ein Edeka-Markt eigentlich, aber es steht immer noch König’s draußen dran, und beim Eintreten spürt sie noch immer die Sonne auf der Haut und weiß, dass es sich in Wahrheit um etwas anderes handelt.Etwas, das für eine Weile sogar die Vorfreude auf eine Woche mit Daniel im Haus überstrahlt, obwohl es genau genommen ein Nichts ist: die kurze Pause hinter einem Fragezeichen …
Lächelnd biegt sie um die Ecke zur Gemüsetheke, von der bei König’s erfahrungsgemäß nicht viel zu erwarten ist und wo eine andere Kundin sich gerade kritisch über die Tomaten beugt. Frau Preiss, Lindas Mutter, erkennt Kerstin, als die den Kopf wendet und dabei eine Bewegung macht, als wäre sie beim Klauen erwischt worden.
»Na, so eine Überraschung!«
»Tag, Frau Preiss.« Sie bemerkt das fröhliche Tremolo ihrer Stimme und schlenkert den Einkaufskorb, als wollte sie Obst und Gemüse einladen, von selbst hineinzuspringen.
»Guten Morgen.« Frau Preiss nimmt zwei Tomaten und dreht sie in der Hand. Die Frisur kommt Kerstin neu vor, kürzer und etwas zu bauschig auftoupiert für ihren Geschmack. Dazu steigt ihr Parfümduft in die Nase, möglicherweise Veilchenaroma, aber Frau Preiss’ Blick klebt auf den Tomaten und lädt nicht ein zu Freundlichkeiten. Unentschlossen streichen Kerstins Augen über grüne Gemüsekästen, auf der Suche nach einer beiläufigen Bemerkung, die nicht Zuflucht zum Wetter nimmt. Sie kennen einander kaum, tauschen gelegentlich am Kornacker Grüße von Auto zu Auto und treffen sich, seit die Versammlungen stattfinden, dann und wann bei den Rehsteig-Frauen. Vor zwei Wochen oben auf dem Maibaumplatz haben sie zuletzt ein paar Worte gewechselt. Jetzt fällt ihr ein, dass Linda ihr seit kurzem manchmal auf dem Motorroller begegnet, Hans-Jürgen Preiss und ihr Exmann derselben Männergesellschaft angehören und dass es für Bergenstädter Verhältnisse eigentlich ungewöhnlich ist, wenn Herr Preiss zur Rheinstraße und Frau Preiss zum Rehsteig geht – was aber zu den Dingen gehört, für die sie sich nicht interessiert.
Pilze kann sie keine entdecken, auch keine Auberginen, und der Broccoli sieht aus, als hätte er Schlimmes hinter sich. Soll sie das sagen?
Frau Preiss erteilt den Tomaten eine seufzende Absage und bläst das Schweigen auf wie einen Luftballon kurz vor dem Platzen. Dann scheint sie sich einen Ruck zu geben, wendet den Blick Kerstin zu und muss kichern, bevor sie flüstert:
»Bei König’s Gemüse zu kaufen ist ein bisschen so, wie wenn man sich ein Haustier aus dem Tierheim mitnimmt.« Sie hat sich ihre Sonnenbrille ins blondierte Haar geschoben und ein Muttermal auf der Stirn, über der linken Augenbraue.
»Sie meinen, man tut ein gutes Werk?«
»Ich meine, man weiß nicht genau, was man sich ins Haus holt.«
Sie sehen einander an, und Kerstins Hand in der Luft wäre beinahe auf Frau Preiss’ Unterarm zu liegen gekommen, aber dann greift sie nach dem gelblichen Broccoli und sagt:
»Der hier allerdings müsste eingeschläfert werden, oder?«
Frau Preiss bekommt kleine Falten in den Augenwinkeln, wenn sie lacht, ein natürliches, helles, ganz unblondiertes Lachen.
»Es sei denn, er rührt Ihr Herz so, dass Sie ihn mit nach Hause nehmen.«
»Nein.«
»Ich
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