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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Ein paar Konferenzbekanntschaften gab es, aber niemanden darunter, der ihm mehr als eine Gastdozentur anbieten würde für ein Semester oder zwei. Keine Lösung des Problems, sondern Aufschub und Ausflucht. Überhaupt wollte er sich noch für einen Moment den Luxus gönnen, alle praktischen Erwägungen zu unterlassen, und sich bis zu dem Punkt treiben lassen, wo irgendetwas ihn anstoßenwürde, ein Gedanke, eine fremde Frau oder das unabweisbare Bewusstsein seiner eigenen Jämmerlichkeit. Abenteuerlust gehörte zu den Eigenschaften, die er an anderen immer bewundert hatte. Träumen würde er nicht, aber die Formulare, die Konstanze ihm auf den Küchentisch gelegt hatte, wohlmeinend und bestimmt, die Anträge für das, was sie politisch korrekt die ›Überbrückungszeit‹ nannte, würde er auch nicht ausfüllen. Sei ein Mann, hatte sie gesagt, und nun würde er versuchen einer zu sein – bloß vielleicht ein anderer, als sie wünschte. Vor zehn Jahren hätte er so reagiert wie sie, aber wie er jetzt reagieren würde, wusste er noch nicht, und wenn etwas dran sein sollte an dem Satz, dass Krisen Chancen sind, dann musste so viel Zeit eben sein.
    »Zahlen«, sagte er der Bedienung, die ein bisschen auf Deux Magots machte mit ihrer langen weißen Schürze und der schwarzen Jacke. Dann ging er weiter und versuchte sich von der Abendbrise anwehen zu lassen entlang der Spree. Das Licht dehnte sich über der flachen Stadt. In den Brückenträgern nisteten Tauben. War er hier je zu Hause gewesen? Auch das gehörte zu seiner Geschichte mit Kamphaus, der in Charlottenburg groß geworden war und diese Ironie in sich trug, die weder bemüht wirkte noch mit Ressentiment durchsetzt war. Die angeborene Begabung, nicht beeindruckt zu sein, sondern allem auf Augenhöhe zu begegnen, ohne zu blinzeln. Wenn Kamphaus aus Bielefeld oder Tübingen kam und fragte: Riech ich nach Weide?, hatte Weidmann das Gefühl, sein ganzes Leben lang nach Weide zu riechen, und er fragte sich – nichts. Er spürte bloß den Druck des Alkohols auf seinen Schläfen und den Durst, der kein Durst war oder jedenfalls nicht das, was er löschen wollte. Ohne es zu merken, war er zurück Richtung Institut gegangen, stand vor dem Klinkerbau mit den hohen Fenstern und hatte das dringende Gefühl, etwas tun zu müssen.
    Die Bauarbeiter waren bereits nach Hause gegangen.
    Als Konstanze schließlich anrief, saß er seit einer halbenStunde im Auto und beobachtete das Ausgehen der Lichter hinter den Fenstern. Hier eins und da eins. Schließlich auch bei Schlegelberger.
    »Wo bist du? Was machst du? Wie geht’s dir?«
    »Im Auto. Nichts. Okay.«
    Konstanze seufzte.
    »Ich kann ja viel, aber dich vor dir selbst beschützen – das wahrscheinlich nicht.«
    »Verlangt auch keiner.« Schlegelberger trat aus dem Eingang, sagte etwas halb über die Schulter zu jemandem hinter ihm und sprach dann weiter in sein Handy.
    »Nein. Dabei wär’s mir nicht unrecht, du würdest das von mir verlangen. Das oder was anderes. Dann hätte ich nämlich eine genauere Idee, was ich tun soll.«
    »Zum Beispiel?«
    »Merkst du, dass du dabei bist, keine besonders gute Figur abzugeben?«
    »Sei ein Mann, wirst du als Nächstes sagen.«
    »Sei ein Mann. Warum nicht?«
    »Hast du schon mal gesagt.«
    »Ich hab vieles schon mal gesagt, ich hab das meiste von dem, was ich dir sage, schon mal gesagt. Das ist der Punkt: Es bringt nichts.«
    Ein weißhaariger, mittelgroßer Mann, unauffällig und mit guten Manieren, beliebt bei der Verwaltung ob seiner Höflichkeit, weil er alles Herrische, den Napoleon in sich, nur in Seminaren und Konferenzen rausließ. Eine weiche, leise Stimme, und das war etwas, was Weidmann schon als junger Doktorand gedacht hatte: Hüte dich vor denen mit den leisen Stimmen. Nur kurz hatte er das damals gedacht, aber jetzt fiel es ihm wieder ein. Gutes Gefühl, früher mal klüger gewesen zu sein.
    »Bist du noch dran?«, fragte Konstanze.
    »Du meinst, ich soll ein Lied pfeifen und einfach neu anfangen.«
    »Du musst dich nicht verstellen. Sei sauer, traurig, frustriert,du hast allen Grund dazu. Aber erlaub der Sache nicht, dein Leben zu zerstören.«
    Oder unseres, dachte er.
    »Aha.«
    »Du hast es immer gesagt: Wissenschaft ist ein Vabanquespiel. Wie Reise nach Jerusalem : Du musst im richtigen Moment, wenn die Musik aussetzt, deinen Hintern auf den freien Platz kriegen. Aber ob da gerade ein freier Platz in der Nähe ist, bestimmen andere. Du kannst nur tun, was alle

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