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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Inhaber die Zeit am Glücksspielautomaten.
    Er pinkelte, kaufte ein Bier und kehrte in seinen Golf-Kokon zurück.
    Er musste los, aber er wusste nicht wovon. Schlussstriche ließen sich so schlecht ziehen in diesem sumpfigen Gelände. Seine Mutter würde sich freuen und keine Fragen stellen, sondern in seinem Blick lesen, dass was nicht in Ordnung war. Und er würde ihr mindestens sagen müssen, dass sie ihn im Büro nicht mehr anrufen solle.
    Er trank sein Bier. Berlin machte sich gut hinter der Frontscheibe, leuchtete bescheiden in den Nachthimmel, floss mäßigbetriebsam die Invalidenstraße entlang und streckte sich aus wie ein geduldiger Patient auf seinem Bett. Die leere Dose erlaubte sich Weidmann aus der geöffneten Fahrertür in den Sand fallen zu lassen. Dann beschloss er der Aufforderung zu folgen, die von dem Haufen Pflastersteine vor dem Eingang ausging.
    Weidmann setzte zurück und parkte das Auto mit der Schnauze direkt vor der Öffnung im Bauzaun.
    Die Tür ließ er offen, den Schlüssel stecken. Bevor er den Steinhaufen erreichte, drehte er sich noch einmal um und vergegenwärtigte sich die Route: Nach links, die Chausseestraße rechts hinauf, immer geradeaus bis in den Wedding. Von der Seestraße auf die Autobahn. Weder Zahnbürste noch Wäsche zum Wechseln hatte er dabei, aber das eine konnte man auf Rastplätzen kaufen, und vom anderen würde in Bergenstadt noch was im Schrank liegen.
    Der Stein, den er in die Hand nahm, war schwerer als erwartet. Er blickte sich um, aber der Parkplatz lag leer, die Geschäfte waren geschlossen, und die Bars befanden sich anderswo. Weidmann wog den Stein in der Hand und sah die Fassade hinauf. Zweiter Stock, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Prof. Dr. Dr. hc. mult. Schlegelberger und seine illustre Mannschaft. Es war ihm eigentlich egal, welches Fenster er traf. Wenn du keinen Schlussstrich ziehen kannst, dann setz einen Punkt. Ein letzter Blick, vom Nordbahnhof näherte sich eine Tram, und als er das Quietschen der Bremsen hörte, holte Weidmann aus und schleuderte den Stein. Drehte sich noch in dem Moment der Stille um, den der Stein im Bogen durchflog, hörte das Bersten von Glas und ging ohne Hast zum Auto.
    Keine Sirene, kein Rufen, keine Reaktion nirgends. Nur sein Herz klopfte lauter als gewöhnlich, und seine Hand zitterte, als er den Zündschlüssel drehte. Die Tram hielt noch, er hatte freie Fahrt. Im Rückspiegel sah er das Spinnennetzmuster in einem der Fenster. In der Mitte ein schwarzes Loch. Es konnte Schlegelbergers Fenster sein, aber er war sich nicht sicher.

3
    Kommers, dachte er, ist ein komisches Wort. Vorne kurz und hinten lang. Es bedeutet, dass alle auf den Marktplatz gehen, weil morgen der Grenzgang beginnt. Es bedeutet, dass es jetzt endlich losgeht. Sein Vater hatte ihm fünf Mark gegeben und erlaubt zu kaufen, was er wollte, und seine Mutter hatte ›Muss das sein?‹ gesagt und sein Vater ›Ist schließlich nur alle sieben Jahre‹, und dann waren sie losgegangen. Sein Taschenmesser steckte in der Hosentasche für den Fall, dass irgendwo ein Ast abgeschnitten werden musste. Beim Grenzgang gingen extra zwei ganz vorne im Zug mit Äxten und Sägen, falls ein umgestürzter Baum den Weg versperrte (obwohl das nie vorkam, meinte seine Mutter), er hatte die Fotos in der Zeitung gesehen, zusammen mit denen vom Mohr und den beiden Wettläufern. Der Mohr allerdings war in echt nicht schwarz, das wusste er, sondern arbeitete bei der Post.
    »Jetzt trödelt nicht so!«, rief er über die Schulter. Aber die kamen und kamen nicht!
    Am liebsten wäre er Wettläufer. Einmal war er mit seinem Vater runtergegangen auf die Lahnwiesen und hatte beim Training zugeschaut. Schon im Mai hatten die angefangen, immer abends, und das Knallen war in der ganzen Stadt zu hören gewesen, sogar hinten am Hainköppel. Sein Vater hatte ihm die Peitsche gezeigt von früher, aber verboten, damit im Garten zu spielen – zu gefährlich für ihn und die Rosen. Es war auch schwerer, als es aussah: Sie ließen das Seil erst fünf oder sechs Mal über dem Kopf kreisen, und dann kam’s drauf an, genau den richtigen Moment zu erwischen, um die Bahn zu ändern und mit gestrecktem Arm zu knallen, immer vor dem Körper, links oben und rechts unten, knall, knall. Sein Vater konnte es noch, aber nicht mehr so lange wie früher. Nobs sagte immer: Das geht tierisch auf die Arme. Es gab extra eine Schlaufe ums Handgelenk,damit ihnen die Wucht die Peitsche nicht aus der

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