Grenzgang
Abend alles in Scherben liegen, alles. Und sie macht dumme Sprüche über Autos.
»Ich rede mit ihm.«
»Mit wem?«
»Mit Daniel natürlich. Endlers sind dein Problem.«
»Sag mir Bescheid, wenn du mit ihm gesprochen hast. Oder falls du vom Klassenlehrer noch Informationen bekommst. Du kannst mich jederzeit …«
»Jürgen, bitte. Ich werde dich nicht jederzeit anrufen.«
»Weißt du, mit diesem ›mein Problem, dein Problem‹ werden wir nicht weit kommen. Wenn es hier um Verantwortung geht, dann auch um unsere.« Da steht er, der Anwalt der Rationalität, mehrfach dekorierter Verfechter von Maß und Besonnenheit, patentierter Erfinder der nüchternen Analyse. Sonnt sich in Selbstlosigkeit. Hielte sie in diesem Moment was in den Händen, sie würde es ihm an den Kopf schleudern. Aber sie hat nur Worte.
»Unsere, ja. Also auch um deine, oder? Sei ehrlich, du willst mir doch nicht erzählen, dass du immer noch … Was hast du damals angegeben? Dreitausendfünfhundert Euro, knapp. Du willst mir doch nicht erzählen, das sei dein aktuelles Monatseinkommen.«
»Willst du das jetzt wirklich besprechen?«
»Wo du schon mal da bist.« Eigentlich will sie nichts weniger als das jetzt besprechen, aber warum kommt er mit seinem neuen Wagen bei ihr vorgefahren und erzählt ihr diese Geschichten? An einem Tag, an dem sie sich ihrer Situation zu bewusst ist, als dass sie auch noch mit anderen Krisen umgehen könnte. Wie soll sie sich da gegen ihn wehren? Und im Übrigen betrügt er sie wirklich um Unterhaltsleistungen, frech und offen, und brüstet sich damit wahrscheinlich auch noch vor seiner …
»Okay«, sagt er leise. »Ich hatte das nicht vor, aber wenn du willst. Wir werden das in der Tat neu berechnen müssen, bloß… zwei Dinge.« Und für den Fall, dass sie nicht bis zwei zählen kann, hilft er ihr mit der entsprechenden Anzahl erhobener Finger. »Erstens gab es eine Reform des Unterhaltsrechts, hast du vielleicht gehört. Sie ist noch nicht in Kraft, wurde aber letzten Monat im Kabinett beschlossen. Darin werden sogenannte Zweitfamilien finanziell gestärkt, das heißt Familiengründungen nach der Scheidung, insbesondere die Versorgung von Kindern, die daraus hervorgehen.«
»Du hast …«, setzt sie an und setzt wieder ab. Sieht den nächsten Satz kommen, bevor er ihn ausspricht.
»Zweitens, Andrea ist schwanger.«
Er schaut sie an dabei, und sie schafft es nicht, rechtzeitig seinem Blick auszuweichen. Für einen Moment ist sie erstaunt, wie wenig es weh tut. Sie krümmt sich gar nicht oder stöhnt auf, sondern steht gegen den Türrahmen gelehnt und fröstelt höchstens ein wenig, da wo ihre Schulter die Wand berührt. Jürgen schürzt die Lippen. Seinerseits ist das Wichtigste gesagt. Alles Weitere werden die Anwälte besprechen, das heißt ihr Anwalt, denn er ist ja selbst einer, wie praktisch, er hat das auch sicherlich schon mal durchgerechnet. Und ›Zweitfamilie‹ ist ein schönes Wort. Die, mit der man sein Glück versucht, nachdem die Erstfamilie in ihre Einzelteile zerbrochen ist. Man verlässt sich ja auch nicht mehr alleine auf die staatliche Rente. Sie schmeckt ihren eigenen Sarkasmus gallig in der Kehle und stellt fest, dass das Netz mit ihren Erinnerungen längst gerissen ist; Früchte rollen über den Boden, sie steht mit leeren Händen da und muss den Blick oben halten, notfalls in die Richtung, in der er steht.
»Aha«, sagt sie. »Herzlichen Glückwunsch.« Was soll sie sonst sagen? Automatisch macht sie einen Schritt zurück, ohne die Verschränkung ihrer Arme zu lösen. Da er einfach nicht abhauen will, muss sie es eben tun. Obwohl es immer noch nicht weh tut. Eher ein Gefühl von Taubheit. Und sie könnte es sich auch kaum verzeihen, wenn es ihr wirklich etwas ausmachen würde. Nach so langer Zeit.
Jürgen nickt, zufrieden mit dem kurzzeitig sachlichen Ton ihres Gesprächs.
»Ruf mich heute Abend an. Wenn du mit ihm geredet hast.«
»Vielleicht.« Sie macht einen weiteren Schritt zurück, schiebt sich gegen die angelehnte Tür, in den Schatten des Hauses.
»Wie gesagt, ich wollte damit heute nicht auch noch anfangen. Das Gesetz tritt auch erst nächstes Jahr in Kraft. Im April. Ich habe immer gesagt, ich nehme meinen Teil der Verantwortung wahr. Und das gilt.«
Sie sieht ihn bereits durch dieses hässliche, gelb genoppte Glas ihrer Haustür, aber er spricht immer weiter.
»Versuch du unserem Sohn klarzumachen, dass er auch Verantwortung trägt. Er ist sechzehn. Du kannst ihn
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