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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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tun, und dabei Augen und Ohren offen halten – deine Worte.«
    Seine Worte. Vielleicht hätte er früher seine Indifferenz nicht so betonen sollen, seine innere Distanz zum Wissenschaftsbetrieb. Verstellung rächt sich, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Jetzt kam es ihm vor, als wäre er viel zu lange im Kreis gelaufen und hätte die ganze Zeit über gewusst, dass auf dem zuletzt entfernten Stuhl sein Name stand; hätte es zwar nicht gelesen, aber in den Mienen der anderen erkannt und wäre trotzdem immer weiter gelaufen, so wie die anderen auch. Dann Stille, Ende der Musik, alle saßen auf ihren Plätzen und sahen ihm zu, wie er langsam auslief, eine letzte Ehrenrunde drehte und sich nichts sehnlicher wünschte, als sich einreihen zu dürfen unter die einzigen Kollegen, die er hatte. Keine Idee, wie es weitergehen sollte. Vorerst saß er im Auto und beobachtete Schlegelberger, der das Jackett auszog, bevor er in seinen Mercedes stieg, dann langsam vom Parkplatz rollte und hinter den Resten des Bauzauns verschwand.
    »Ein Hoch auf meine Worte«, sagte er.
    »Ich kann mit Selbstmitleid nicht umgehen. Du hast immerhin noch dein Staatsexamen.«
    Das Staatsexamen … jetzt also auch Konstanze.
    »Ich hab sogar Abitur«, sagte er. »Ich könnte studieren.« Und er musste stark an sich halten, nicht hinzuzufügen: oder kleinen Migrantenkindern Deutsch beibringen. Er hatte sich unter Kontrolle, immer noch, er wurde sarkastisch, ihmlagen Gemeinheiten auf der Zunge, aber wütend wurde er nicht. Thomas Weidmann, 36 Komma sieben Grad am Abend, höchstens.
    »Du könntest eine oder zwei der besseren Flaschen aus deinem Weinkeller holen und bei mir vorbeikommen.«
    »Heute nicht.«
    »Heute nicht. Heute willst du im Saft deiner eigenen Verletztheit schmoren. Und ich habe am Nachmittag noch gedacht, es wäre manches leichter, wenn wir zusammenziehen würden. Ich meine: zusammengezogen wären. Jetzt ist vielleicht nicht der beste Zeitpunkt.«
    »Nein.«
    »Was wirst du jetzt tun? Ich meine genau jetzt, heute. Oder morgen.«
    »Grenzgang feiern.« Er wusste es selbst erst, als er es sagte. Nach Bergenstadt fahren und Grenzgang feiern.
    »Du hast gesagt, da kriegen dich dieses Jahr keine zehn Pferde hin. Findet das dieses Wochenende statt?«
    »Heute ist Kommers, ab morgen wird gewandert.«
    »Wir sehen uns also dieses Wochenende nicht«, sagte sie, und er glaubte ihr resigniertes Nicken zu sehen. »Ich bekomme keine Chance, dir irgendwie behilflich zu sein. Nein?«
    Das Licht in der Bibliothek ging aus, und kurz darauf kamen die beiden Hilfskräfte aus dem Gebäude, gefolgt von einer Handvoll Studenten. Die Autos fuhren mit angeschalteten Scheinwerfern jetzt, der Himmel zeigte noch Spuren von Violett, von Wolkenschleiern und einem böigen Aufruhr, der den ganzen Tag nicht zu sehen gewesen war.
    »Nehme nicht an, dass du Zeit und Lust hast auf drei Tage feiern in der Provinz.«
    »Ich muss morgen und übermorgen unterrichten. Wenn du’s mir etwas früher gesagt hättest …«
    »Ich hab mich in diesem Moment entschieden. Das ist meine neue Spontaneität.«
    »Immerhin. Und deine Mutter wird sich freuen. Grüß sie.Du bist sicher, dass du nicht wenigstens noch essen willst, bevor du fährst.«
    »Ich muss los, sonst wird’s zu spät.«
    »Ruf mich an, wenn du da bist.«
    »Bist du sauer?«
    »Fahr vorsichtig, Thomas.«
    Eine Stunde später stieg er aus dem Auto, weil er pinkeln musste. Der Parkplatz war dunkel, und im Gebäude brannten nur noch die Lichter im Treppenhaus. Draußen der Geruch von Sand und nassem Stein. Eine Stunde lang hatte er im Auto gesessen und weder Radio gehört noch Zeitung gelesen, sondern diesem Gefühl in sich nachgespürt, dass das Leben der letzten zwanzig Jahre, und vielleicht sogar der nächsten zwanzig, sich zusammenzog auf diesen Moment, dieses komprimierte Jetzt im Auto – aber er bekam das Gefühl nicht zu fassen. 1999 war sowieso eine unwahrscheinliche Jahreszahl, der sich emotional nur schwer gerecht werden ließ. Lenk nicht ab . Eine Schattenzahl, kalendarisches Zonenrandgebiet, man glaubte ein Klicken zu hören und begann zu lächeln über die Aufbrüche, die überall so emsig plakatiert wurden. Wir sprechen von dir . Außerdem fand er es schon schwierig genug, seiner eigenen Lebenssituation emotional gerecht zu werden, von Konstanze nicht zu reden. Wenige Fußgänger gingen abends durch diesen Teil der Stadt, und in dem Imbiss, den er nach ein paar Schritten betrat, vertrieb sich der

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