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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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trotz dreier Gläser Rotwein noch ins Auto gestiegen ist, sich mit dem Taschentuch ihren Lippenstift von der Wange gewischt und seither vier Mails unbeantwortet gelassen hat. Im Übrigen weiß er, dass sie Ursula heißt und Tierärztin ist. Auch das hat ihn abgestoßen: Der Gedanke, dass sie den ganzen Tag das Fell von Hunden und Katzen berührt, wenn auch von solchen, die Bad Homburger Witwen noch häufiger kämmen, waschen und sogar parfümieren als sich selbst. Er will mit keiner Frau das Bett teilen, die ihre Tage mit Tieren verbringt.
    Dass auch die zweite Dame nicht seinem Geschmack entspricht, erkennt er schon am gekünstelt flotten Hey! der Anrede. Wer so loslegt, hat entweder zu viel zu verbergen oder zu wenig vorzuweisen. Weidmann klickt auf Löschen und geht zurück in die Küche, um sich noch ein Brot zu holen. Geschirr vom Wochenende trocknet weißfleckig im Sieb neben der Spüle. Im Schnitt beantwortet er jede zehnte Mail und trifft sich im Jahr mit fünf oder sechs Frauen. Verbringt einzelne Nächte in Hotels oder fremden Apartments, manchmal, wenn die Chemie stimmt, ein Wochenende am Meer oder in der Pfalz. Meistens jedoch schlägt die Erwartung in Ernüchterung um wie ein aus dem Wind gedrehtes Segel. Ein Moment der Spannung und der Nacktheit, wenn aus dem Alias der E-Mails ein echter Name wird; die Schonungslosigkeit der ersten Blicke, der Vergleich mit schmeichelhaften Fotos, der hinter stillem Lächeln versteckte Vorwurf des Betrugs. Oder im anderen Fall Erleichterung, innerliches Aufatmen, mühsames Zurückhalten von Vorfreude. Nicht zu viel setzen auf eine gerade erst begonnene Partie. Alles in allem ist es ein Spiel für Verlierer.
    Bevor er zurückkehrt ins Wohnzimmer, wirft er einen Blick auf die Anzeige des Telefons. Es hat geklingelt, aber die Nummer wird nicht angezeigt. Der Anrufbeantworter vermeldet eine rot blinkende Null.
    Ein Spiel für Verlierer, aber besser als Einsamkeit. Und viel besser, als in Bergenstädter Kneipen nach Frauen zu suchen. Es ist ein Ersatz für etwas, worauf er nach Konstanze aufgehört hat zu hoffen und woran er vielleicht schon vor Konstanze aufgehört hatte zu glauben, etwas wofür ihm also von jeher die Begabung fehlt. Manchmal fühlt es sich für begrenzte Zeit sogar gut an. Spannend, auch entspannend. Außerdem haben die Treffen ihn mit einer anderen, unerwarteten Begabung bekannt gemacht, und das soll man, sagt er sich, nicht unterschätzen, jenseits der Vierzig noch eine neue Qualität an sich zu entdecken. Er kann zuhören. Nicht nur den Mund halten, sondern wirklich zuhören. Ein Sinn für Timing gehört dazu, die langsamen Schluckeaus dem Weinglas, während sie nach Worten oder dem Taschentuch sucht. Zum richtigen Zeitpunkt zu lächeln ist wichtig und noch wichtiger, die viel attraktivere Frau am Nachbartisch nicht zu bemerken. Er hat sein Talent entdeckt und genutzt. Eine ähnliche Begabung wie beispielsweise das Tanzen: Führen, ohne auf die Füße zu treten. Und wenn die Musik verklungen ist, im richtigen Tonfall zu sagen: Gehen wir?
    ›Charles B.‹ lautet der Betreff der dritten Mail. Sein falscher Name, so lächerlich wie irgendein anderer, aber das gehört dazu. Man nennt sich anders, gibt sich anders, genießt die Leichtfertigkeit des Virtuellen. Wie Pokern mit Falschgeld, hat ihm mal eine Frau gesagt. In seinem Fall handelt es sich um eine Reminiszenz an das, was er früher gerne gelesen hat und jetzt immer noch mag, aber nicht mehr liest. Er liest immer weniger. Langweilt sich immer mehr.
    Sie nennt sich Viktoria und schreibt:

    Cher Monsieur,
    ich erlaube mir, Sie einen Monsieur zu nennen, weil Ihr Name mir eher ein frz. ›Scharrl‹ zu sein scheint denn ein engl. ›Tschahls‹ und weil ich vermute, dass er aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, als es noch echte Messieurs gegeben haben soll – wiewohl der von Ihnen zum Namensgeber Erhobene allgemein nicht zu ihnen gerechnet wird. Oder täusche ich mich? Heißen Sie am Ende wirklich Charles (so wie ich tatsächlich Viktoria heiße)?
    Wenn Sie gestatten, würde ich das gerne herausfinden – Sie brauchen es also nicht gleich zu offenbaren. Es gibt da einen Ort, an dem ein Bohemien wie Monsieur B. sich vielleicht wohl gefühlt hätte. Und Sie auch, wenn Sie denn wirklich so mutig sind wie Ihre Namenswahl zu glauben nahelegt.
    Sind Sie mutig, mein lieber Scharrl? Oder wenigstens neugierig? Connais-tu, comme moi, la douleur savoureuse …?
    Schreiben Sie mir, und wir werden sehen.
    Au

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