Grenzgang
Ihnen an der Wand hängt er.«
Frau Preiss’ Lachen erinnert sie an Anitas, es ist kehlig, hell und eine Spur zu laut. Nur hätte sich Anita nicht die Hand auf den Mund gelegt und entschuldigend zu Kerstins Mutter geblickt.
Mit einer Hand fasst Liese Werner an den Türrahmen, in der anderen hält sie einen halbvollen Tupperbecher, zitternd und nach vorne geneigt wie eine Spendenbüchse der Heilsarmee.
»Muss da noch Medizin rein?«
»Ja. Lass mir den Becher hier. Ich mach die Tropfen rein und bring ihn dir.«
»Durchblutungsstörungen des Gehirns«, sagt ihre Mutter zu Frau Preiss gewandt. »Und immer viel Schmerzen. Kopfschmerzen vor allem. Aber man tut, was man kann, ja.«
»Glück haben Sie, dass Sie so gut versorgt werden hier.«
»Was ich mir nicht behalten kann, schreib ich auf.«
»Lass einfach den Becher hier stehen, Mutter.«
»Bitte?«
»Den Becher.«
»Da müssen noch Tropfen rein.«
»Ich bring sie dir sofort.«
Gemeinsam sehen sie ihrer Mutter nach, wie sie zurück durch die Diele geht, mit Schritten, als wöge jeder Schuh zehn Kilo.
»So ist das im Alter.« Frau Preiss hat den Flaschenöffner von der Wand genommen, dreht das Gewinde in den Fingern und kann nichts gegen das Lachen tun, das noch in ihren Mundwinkeln zuckt. Und Kerstin denkt, dass sie einander noch umarmen werden; nicht an diesem Abend wahrscheinlich, aber irgendwann.
»Eigentlich«, sagt sie, »würde ich lieber gleich den Wein trinken.«
Zweiter Teil
… die Grenze …
6
Er schläft nicht wirklich, sondern balanciert entlang der Grenze zwischen Traum und Wachheit, zuckt zusammen, wenn im Haus eine Tür zuschlägt, und versinkt sofort wieder in einer Reihe zusammenhangloser Bilder: Granitzny spricht mit erhobenem Zeigefinger, Schüler sehen ihn erwartungsvoll an, und gerade als Kerstin Werner in seinem Blick zu lesen versucht, was er denkt, klingelt das Telefon. Weidmann lässt das Geräusch hinter sich, schreitet durch einen langen Flur, in den aus offenen Türen Lichtstrahlen fallen. Alle Räume rechts und links sind leer. Er hat Zeit und überlegt sich sorgfältig, was er sagen will. Hört draußen auf der Straße ein Auto starten. Einen Moment lang weiß er, dass er auf dem Rücken liegt, dann hat er das Ende des Flures erreicht und erinnert sich: Das Telefon hat wirklich geklingelt.
Die Sonne scheint durch das breite Fenster und macht den Staub in der Luft sichtbar. Es dauert einen Moment, bis seine Gedanken sich von den letzten Fetzen des Traumes befreit haben. Wer ruft ihn an um diese Zeit? Weidmann steht von der Couch auf, legt die Wolldecke zusammen und lässt den Blick durch sein Wohnzimmer schweifen: Ein Junggesellendomizil, keine Pflanzen vor dem Fenster, keine Bilder an den Wänden, nur lange, unter der Last der Bücher allmählich Bogenform annehmende Regalböden. Die Regale dominieren das Zimmer und lassen es eng erscheinen, wie ein Arbeitszimmer mit Sitzecke, und schon seit Jahren nimmt er sich vor, einige Kisten vollzupacken und in den Keller zu bringen. Vieles von dem, was da steht, hat er ohnehin nie gelesen. Die Deutsche Gesellschaftsgeschichte reiht sich in vier unberührten Bänden auf einem der oberen Fächer; als Doktorand hat er nach dem Erscheinen des ersten Bandes für die anderen subskribiert, die dann in immer längeren Abständen erschienen und ihm zugeschickt wurden,der letzte erst vor drei oder vier Jahren, wie eine Flaschenpost aus einer Zeit, als der Ausdruck ›Standardwerk‹ für ihn noch eine gewisse Anziehungskraft besaß. Jetzt stehen sie zu viert da oben, und der Nachzügler hat, was den Grad der Vergilbtheit betrifft, bereits zu den älteren Bänden aufgeschlossen.
Schlegelberger wird diesen Sommer emeritiert, im Internet ist er auf diese Nachricht gestoßen. Der große Hans-Werner Schlegelberger. Wird sich feiern lassen im Kreis seiner Schüler und Kollegen, sich artig bedanken für die zahlreichen Huldigungen und in seiner Rede witzig sein mit einer wohl abgewogenen Dosis polemischer Schärfe. Seitenhiebe auf die Meisterdenker unter den Historikern, die lieber den Kaffeesatz der Theorie lesen, statt die Quellen zu studieren. Schlegelberger liebt Applaus. Mit beiden Händen reibt sich Weidmann den Schlaf aus dem Gesicht. Kamphaus wird da sein, der kürzlich von Leipzig nach Bielefeld berufene Kronprinz, dem bei diesem Anlass die Laudatio obliegt, und auch die kann Weidmann sich vorstellen: eine Eloge ironischer Verehrung, Kamphaus nämlich liebt es zu applaudieren, so von
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