Grenzgang
Gipfel zu Gipfel. Und Emeritierung bedeutet ja, dass der andere gerade frei wird.
Die Nachmittagssonne steht über dem Tal, ein leichter Westwind zieht lahnabwärts. Keine Fußgänger in der Grünberger Straße. Dreistöckige Mehrfamilienhäuser, Mietskasernen der größeren Art mit sorgfältig gefegten Zugangswegen und regenbogenfarbig aufgereihten Batterien von Mülltonnen. Was geht ihn Schlegelbergers Emeritierung an? Vor ihm liegt ein Nachmittag ohne dringende Erledigungen, und dennoch fehlt ihm die Muße, sich mit einem Buch auf den Balkon zu setzen und Seite für Seite die Zeit an sich vorbeizuwinken. Es ist irritierend, unter etwas zu leiden, das keinen Schmerz verursacht. Nur ein winziges Ziehen, ein sanfter Druck, der sich kaum lokalisieren lässt und den jede Aktivität umgehend zum Verschwinden bringt. Aber in den Pausen ist er da. Immer. Vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen, jeder Moment des Innehaltens wird begleitet von diesem Gefühl, das ihm inzwischen sovertraut ist, dass er es niemandem mehr beschreiben könnte. Es ist nichts und ähnelt nichts, es ist einfach nur da. Wie ein Tinnitus, aber unsinnlicher, formloser. Lässt sich nicht zu echter Verzweiflung anfachen und steigert sich nicht zur Wut, sondern bleibt, was es ist und wie es ist: Keine Wolke am Himmel, und trotzdem scheint die Sonne nicht. Nur klebriger Dunst füllt die Luft, legt sich auf die Poren der Haut und hüllt die Welt in Zwielicht. Vielleicht geht er deshalb so gerne im Wald spazieren. Immer wenn er nicht weiß, was er machen soll, geht er einfach los. Atmen.
Vorher nur ein rascher Blick auf seine E-Mails.
Auf dem schweren Schreibtisch im Arbeitszimmer liegt unerledigte Post, aber Weidmann wischt die Umschläge beiseite und schaltet den Computer an. Während der hochfährt, schmiert er sich in der Küche ein Brot und trinkt einen Schluck Apfelsaft, kehrt mit dem Brot in der Hand ins Arbeitszimmer zurück und sieht aus dem Fenster. Es ist Anfang Juni. Zeit vergeht, und nichts passiert, wie immer, aber jetzt auf die perfide Weise des heraufziehenden Sommers. Ungeduld erwacht aus dem Winterschlaf, ein Nager mit kleinen Zähnen. Nervös und hungrig. Dabei weiß er nicht einmal, worauf er eigentlich wartet.
Keine Nachrichten unter seiner offiziellen Adresse. Weidmann gibt seine zweite Adresse und das Kennwort ›Wochenende‹ ein und bekommt unter Posteingang drei Mails angezeigt. Eine Absenderin erkennt er, aber der Betreff ›Warum nicht?‹ macht ihn wenig neugierig auf den Inhalt. Bei ihrer Begegnung vor fünf oder sechs Wochen ist ihm die Frau, die sich in den Mails zuvor als ›Rose‹ bezeichnet hatte, gleichzeitig welker und stacheliger erschienen als auf dem offenbar absichtlich unterbelichteten Foto, das sie ihm hat zukommen lassen. In einem Weinkeller in der Nähe von Hanau haben sie sich getroffen – fürs erste Rendezvous wählt er immer Weinkeller –, und diese Rose war zwar nicht unsympathisch, sondern angenehm und sogar geistreich im Gespräch, aber unwiderruflich nicht sein Fall. Ein Blick hatte ausgereicht, um das festzustellen, undhätte sie den Blick nicht sofort erwidert von ihrem Ecktisch aus hinter der Bar, hätte er sich womöglich nur unentschlossen umgesehen im Raum, wie einer, der von seinen Stammtischbrüdern versetzt worden ist, und wäre schnurstracks zurück nach Bergenstadt gefahren. Stattdessen der Druck einer zu warmen und zu weichen Hand, dazu die cremeglänzende Rundung unter ihrem Kinn.
Freut mich, hat er gesagt. Wie immer.
Widerwillig klickt er die Mail an, überfliegt den Inhalt und verzieht bei der letzten Zeile das Gesicht: Deine (?) Rose. Bei der Anmeldung im Dating-Portal hat er den Wohnbereich Gießen/ Frankfurt angegeben, um nicht Gefahr zu laufen, jemandem von Zuhause zu begegnen an einem kerzenbeschienenen Nischentisch, und von zehn Mails, die er bekommt, stammen acht oder neun von gut verdienenden Frauen um die Vierzig, den Besitzerinnen von Praxen, Agenturen oder Ateliers in Frankfurt oder im Taunus, Frauen, die ihn in Verlegenheit bringen bei der Auswahl des Weines, die ebenso gut Französisch sprechen wie er und die, wenn sie ins Erzählen kommen, eine Illusionslosigkeit offenbaren, eine Vertrautheit mit Enttäuschungen, dass er sich daneben vorkommt wie ein Erstsemestler im Nebenfach Leben, auch jetzt noch.
Bist du auch, würde Konstanze sagen. Auch jetzt noch.
Mit denen jedenfalls kommt es selten zu einem zweiten Treffen.
Deine (?) Rose. Obwohl er an jenem Abend
Weitere Kostenlose Bücher