Grenzgang
revoir,
V.
Weidmann lehnt sich in seinem Stuhl zurück, als müsste er die Zeilen aus größerer Entfernung betrachten. Vielleicht liest er keine Romane mehr, weil diese Tarnkappen-E-Mails fremder Frauen seiner Phantasie ausreichend Nahrung bieten. Dahinter stehen schließlich Autorinnen, mit denen sich vielleicht schlafen lässt. Jedenfalls gefällt ihm das ›Sie‹. Ihm gefällt eigentlich alles, was er liest, vor allem die Dezenz, die unausgesprochen lässt, was nicht ausgesprochen werden muss. Ist er mutig? Gute Frage, die hat er sich so nie gestellt. Jedenfalls geht ein Kribbeln durch seine Fingerspitzen, und anstatt die Fotos auf ihrer Portalseite anzuschauen, versucht er sich zu erinnern, aus welchem Gedicht die französische Zeile stammt. Nachdem er die Mail drei Mal gelesen hat, schaltet er den Computer aus.
So einfach ist das, wie ein Selbstbetrug mit offenen Augen: Eine Woche lang, vielleicht zwei oder drei, wird der Gedanke an die rätselhafte Viktoria ihn begleiten durch die Unterrichtspausen am Vormittag und die Spaziergänge am Nachmittag. Aus dem Stoff ihrer E-Mails und mit den Mitteln seiner Phantasie wird er sich ein Wesen erschaffen, das verlockend genug ist, um seinetwegen jenen Ort aufzusuchen, von dem sie in ihrer Mail gesprochen hat. Dann ein Treffen, und dann – entweder oder. Früher oder später. Es ist ein Zeitvertreib, mehr nicht.
Das Klingeln des Telefons reißt ihn aus seinen Gedanken. Der Spaziergang fällt ihm wieder ein. Weidmann räuspert sich laut und hebt ab.
»Weidmann.«
»Guten Tag, Herr Weidmann. Werner hier, die Mutter von Daniel.« Sie spricht leise, beinahe schuldbewusst leise. Und er spürt voller Überraschung, wie seine Hände feucht werden.
»Guten Tag«, sagt er.
Sie hat so lange mit ihrem Rückruf gewartet, dass sie ihn schließlich nicht nur mit der Angst vor schlechten Nachrichten anruft, sondern obendrein mit der Befürchtung, seinen Unwillen erregt und damit schlechte Nachrichten provoziert zu haben.Anders formuliert: Sie gibt ihm die Chance, ihre Dankbarkeit zu gewinnen.
»Sie müssen entschuldigen, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.«
»Überhaupt kein Problem, Frau Werner.«
»Es ging nicht eher.« Sie macht eine Pause. »Gibt es Neuigkeiten? Ich meine: Wissen Sie jetzt mehr als in der letzten Woche?«
»Etwas mehr. Wollen Sie’s am Telefon besprechen?«
»Nein. Sehen Sie, ich habe meine Mutter im Haus und muss entweder lange im Voraus planen oder Möglichkeiten ergreifen, wenn sie sich bieten. Gerade habe ich sie zum Arzt gefahren. Ich hatte es vorher schon einmal versucht, es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in der Mittagspause anrufe.«
»Ich bin wach.«
»Jedenfalls hätte ich genau jetzt zwei Stunden Zeit.«
»Sehr gut«, sagt er und weiß nicht, ob er das Gleiche auch denkt.
»Ja?« Sie scheint nebenher etwas zu notieren oder hantiert mit einem Gegenstand, oder vielleicht ist es auch nur ihre Nervosität. »Ich hatte befürchtet, dass Sie … Aber gut. Gilt Ihr Angebot noch, bei mir vorbeizukommen? Irgendwann wird die Praxis anrufen, weil meine Mutter geholt werden muss, und man hat dort meine Handynummer nicht.«
»Ich denke, ich mache mich sofort auf den Weg.«
»Vielen Dank.«
»In einer Viertelstunde?«
»Vielen Dank, wirklich. Sie wissen, wo ich wohne?«
»Ich weiß Bescheid.«
Er legt auf mit dem Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, aber er weiß nicht genau wozu. In der Mittagspause anzurufen und ein Treffen auf der Stelle anzuregen fällt aus dem Rahmen des Ortsüblichen, aber dass Kerstin Werner kapriziöse Neigungen besitzt oder ihm die Bedingungen diktieren will, glaubt er nicht. Es kostet sie Überwindung, ihn zu treffen. Sie istsensibel gegenüber dieser Mischung aus gegenwärtiger Fremdheit und vage erinnerter Intimität. Also hat sie neun Tage lang mit sich gerungen und einfach in einem Moment zum Hörer gegriffen, in dem ihr keine Entschuldigung zur Verfügung stand, das Gespräch noch länger aufzuschieben.
Weidmann wechselt das Hemd, putzt die Zähne und sprüht sich Aftershave aufs Kinn. Sein Blick in den Spiegel kommt wie eine Frage zurück: Ist das nur ein Elterngespräch oder …? Das Grau an den Schläfen reicht bis zu den Koteletten hinab, aber der leichte Bartschatten, den er sich erlaubt, verspricht schwarzen Wuchs, ohne weiße Einsprengsel. Vielleicht würde sich der Versuch lohnen, denkt er. Mit dem Bart.
Zwei Minuten später eilt er die Treppe hinab. Gummistiefel und Kinderfahrräder
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