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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Zucken setzte in der Kehle ein statt im Schoß. Vergebens rann ein Schweißtropfen ihren Rücken hinab. Niemals zuvor hatte sie Wahrheit in so konzentrierter Form erlebt.
    Nein, dachte sie. Nein, nein, nein. Aber es gab kein Entrinnen.
    »Du hast dich nicht entschuldigt, und ich weiß auch warum.« Sie hatte nicht das Gefühl zu sprechen, aber es war ihre Stimme. »Weil es dir nicht leidtut.«
    Sein Gesicht war klar und leer. Wie Schnee oder Glas. Schön auf eine Weise, die mit Form nichts zu tun hat. Vielleicht hatte sie ihn nie genauer betrachtet. Sie nahm sein Wasserglas vom Tisch, holte aus und schloss zum letzten Mal die Augen. Zum letzten Mal für immer.

    * * *

    »›Leistungen der sozialen Pflegeversicherung werden zur Verfügung gestellt, wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt. Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit …‹ Was ist denn der Unterschied zwischen geistigen und seelischen Krankheiten? Das klingt ja beinahe theologisch.« Kerstin blickt zu ihrem Sohn, aber der hört nicht zu, sondern verfolgt das Geschehen im Fernsehen, und zwar wie immer, wenn Reinhold Beckmann kommentiert, mit abgedrehtem Ton. Soweit seine Miene darüber Aufschluss gibt, interessiert er sich für die Fußball-Weltmeisterschaft kaum mehr als für das Infoblatt der AOK, aus dem seine Mutter ihm vorliest, um die drückende Stille im Wohnzimmer zu vertreiben und dem nervösen Hin und Her ihrer Gedanken den Anschein von Kohärenz zu geben. Für Fußball interessiert sie sich nicht. Die ans Hysterische grenzende Vorfreude, mit der sich monatelang das ganze Land auf das Großereignis WM 2006eingestimmt hat, ist an ihr abgeperlt wie Wasser an Wachs. Aber nun zeigt sich, dass das Ereignis selbst und der Standort des einzigen Fernsehgeräts im Haus ihr eine Reihe von Abenden beschert, an denen Daniel sich nicht in seinem Zimmer verkriecht, sondern ihr im Wohnzimmer Gesellschaft leistet. Darum möge die WM gesegnet sein und so lange dauern, bis eines Tages sogar Franz Beckenbauer Falten bekommt.
    Sie wendet sich wieder ihrem Infoblatt zu:
    »›… geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens benötigen. Diese gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen müssen den Bereichen der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität oder der hauswirtschaftlichen Versorgung zugeordnet werden können.‹ So, und jetzt sagst du mir bitte, ob das auf meine Mutter zutrifft oder nicht.«
    »Trifft … nein.« Ganz knapp kullert der Ball am polnischen Tor vorbei. Jürgen Klinsmann wirft erst die Arme in die Luft und dann eine Flasche zu Boden und blickt ähnlich hilfesuchend zu seinem Assistenten wie Kerstin zu ihrem Sohn.
    »Trifft zu«, sagt der.
    »Sind wir die Weißen?«
    »Nein. Die Weißen sind die sogenannten Klinsmänner.« Er sitzt im Sessel vor dem Fernseher, in einem roten T-Shirt mit drei rennenden Tomaten auf der Brust und dem Schriftzug Fast Food . Sein Gesicht sieht mitgenommen aus, seit er vor zwei Tagen von seinem Vater zurückgekommen ist, pickeliger als zuvor, aber seine Laune scheint sich stabilisiert zu haben in den versteppten Regionen knapp unterhalb der Sprachgrenze. Vorsichtige Nachfragen, ob am Hainköppel eine Art reinigendes Gewitter niedergegangen ist und wie der Besuch bei Endlers war, hat er mit schmalen Lippen und ohne Zuhilfenahme von Worten abgewiesen.
    Null zu null lautet der Spielstand, nicht nur in Dortmund: Sie selbst fühlt sich auch unentschieden. Und gleichzeitig unterHochspannung. Eine Schale Erdnüsse steht auf dem Tisch, und da Daniel keine Anstalten macht, welche zu essen, bedient sie sich selbst. Der Sommerabend weht lau zur Terrassentür herein, mischt Blütenduft unter das Aroma der frisch gegossenen Beete im Garten und kitzelt an ihren freiliegenden Nervenenden. Ein paar Falter flattern vor der Fensterscheibe. Sie hätte gerne einen Spaziergang gemacht die Hornberger Straße entlang, um ihre Nervosität abzuschütteln und vielleicht zufällig Karin Preiss zu treffen und das mit diesem Club noch mal in Ruhe zu besprechen, aber die raren Momente, in denen Daniel als eine Art Praktikant am Familienleben teilnimmt, gilt es auszukosten; notfalls durch Mitteilungen unter der Überschrift Kombinationsleistung – eine Information Ihrer Pflegekasse .
    »Es gibt drei Stufen«, sagte sie mit vollem Mund. »Erhebliche

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