Grenzgang
Pflegebedürftigkeit, schwere Pflegebedürftigkeit und Schwerstpflegebedürftigkeit. Fragt sich also, ist meine Mutter erheblich oder schwer pflegebedürftig?« Sie erinnert sich an Doktor Petermanns Worte: Versuchen Sie’s ruhig gleich mit Stufe II. So arm, wie sie immer tun, sind unsere Pflegekassen gar nicht. Grundsätzlich scheint der Fall klar: Ihre Mutter kann nicht alleine kochen, sie wäscht ihre Wäsche nicht mehr selbst, kauft nicht für sich ein und wird seit März von Frau Kolbe vom ambulanten Pflegedienst einmal in der Woche gebadet – was, wenn nicht das, nennen Pflegekassen ›gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens‹? Sie lädt noch einmal Erdnüsse nach. »Für die erfte Stufe gibt’f ümmerhin eine Sachleistung von 384 Euro und eine Geldleiftung von 205 Euro. Üm Monat, nehm’ ich an.« Ihr üblicher Sinn für Vorsicht rät ihr, es erst einmal bei Stufe I zu belassen.
»Ich versteh nur Erdnuss.«
Kerstin spült mit einem Schluck Wasser nach.
»384 plus 205.«
»589.«
»Ist doch nicht schlecht.« Jedenfalls kann sie sich nicht vorstellen, dass die Kürzung ihres monatlichen Unterhalts imkommenden Jahr diesen Betrag übersteigen wird. Sie sieht zu ihrem Sohn und setzt zum hundertsten Mal seit seiner Rückkehr vom Hainköppel zu der Frage an, was er von der Aussicht hält, im nächsten Jahr einen Halbbruder oder eine Halbschwester zu bekommen. Ob es ihm peinlich ist oder egal oder ob er sich freut. Und zum hundertsten Mal unterlässt sie es, die Frage zu stellen. Sie würde den Ton ja doch nicht treffen. Wut kann sie inszenieren, wenn es ihr strategisch notwendig erscheint, aber Gleichgültigkeit gelingt ihr nie. Offenbar ist sie nie wirklich gleichgültig. Und wahrscheinlich fühlt sie sich deshalb immer häufiger so erschöpft.
Daniel schaut mit gelangweilter Konzentration auf den Bildschirm. Unablässig betasten seine Fingerspitzen die pusteligen Stellen an Wangen und Kinn, und sie muss sich sehr zusammenreißen, um nicht mit der Hand dazwischenzugehen.
»Seit wann magst du keine Erdnüsse mehr?«
»Acrylamid. Ist krebserregend.«
»Acrylamid entsteht beim Frittieren. Die Erdnüsse sind geröstet.«
»Trotzdem schlecht für die Haut.«
Ich habe die für dich gekauft! – sagt sie nicht, sondern:
»Seit wann so eitel?«
Er lässt ihre Frage ins Leere laufen, verfolgt reglos, wie der Ball ein weiteres Mal das Tor um Haaresbreite verfehlt und verschwitzte Spielergesichter sich zu Pantomimen der Verzweiflung verzerren. Ohne Ton wirkt die Emotionalität der Nahaufnahmen bizarr. Ein ganzes Stadion scheint zu leiden, inklusive der Bundeskanzlerin, aber kein Stöhnen ist zu hören, kein Fluchen und kein Winseln. Denn Daniel will es so. Schwarz-rot-goldene Fahnen wehen schweigend über vollbesetzte Ränge, Leute tragen fußballförmige Hüte und Kriegsbemalung, vollführen eine Mischung aus Karneval und Stammesritual und beginnen ekstatisch zu winken, wenn der siebte Sinn des modernen Menschen ihnen meldet, dass eine Kamera auf sie gerichtet ist.
Daniel zerreibt was zwischen seinen Fingern.
»Geistige Krankheiten sind Schädigungen des Gehirns«, sagt er, »zum Beispiel Omas Alzheimer. Seelische Krankheiten sind psychisch. Depressionen, Halluzinationen und der ganze Scheiß.«
»Aha.«
»So wie bei Computern: Hardwareprobleme und Softwareprobleme.«
»Oma hat also ein Hardwareproblem?«
»Festplatte.« Er tippt sich an den Kopf.
Sie unterdrückt die Frage, wo seine Probleme ihren Ursprung haben, und lehnt sich auf der Couch zurück. Und ihre eigenen? Seit am Nachmittag Frau Preiss angerufen und verkündet hat, dass sie am übernächsten Samstag diesem Etablissement namens Bohème einen Besuch abstatten werde, weiß sie überhaupt nicht mehr, wohin mit ihren Gedanken. Sie fühlt sich regelrecht verfolgt von ihrer eigenen Phantasie, dem Bild eines Haufens nackter Leiber, die sich auf einer Kunstrasenfläche ineinanderknäueln. Ein Pärchenclub! Wieso denkt sie über solche absurden Pläne überhaupt nach? Vermutlich ist sie beim Zappen im Spätprogramm dann und wann auf reißerische Reportagen gestoßen, hat den begeisterten Erfahrungsberichten dieser sogenannten Swinger zugehört und sich gefragt: Wer sind die?
Nun zeichnet sich die Antwort ab: Menschen wie Karin Preiss und sie. Das ist fast wahnsinnig genug, um für den Ekel zu entschädigen, der mit der Vorstellung eines wildfremden Busfahrers einhergeht, der lüstern Hand an sie
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