Gretchen
37 Knoten und einen Volvo-Motor, der ihn noch nie im Stich gelassen habe, von sich gab. Auf der Kommandobrücke, wie er den winzigen Verschlag nannte, strahlte er sogar eine gewisse Souveränität aus, ganz der Seebär, der er wohl war, der nie aufgab und auch den stärksten Stürmen trotzte.
Der Seebär zündete erneut seine Pfeife an. Es roch nach Honig, Vanille und schottischem Whisky, nicht unangenehm, selbst der Benzingeruch mischte sich dezent mit ein. Gretchen Morgenthau saß auf einer Holzbank leicht versetzt neben ihm, den Rettungsring immer im Blick, einfach so, irgendjemand musste ja auf ihn aufpassen. Seit über einer Stunde waren sie schon unterwegs. Zu sehen gab es nichts. Nur dieses Wasser. Immer nur dieses Wasser. »Schauen Sie mal, Delfine«, sagte der Fischer und zeigte mit seiner Pfeife in Richtung Backbord, wo eine Schule Tümmler ihr übermütiges Unwesen trieb. Gretchen Morgenthau blickte unbeeindruckt nach vorn und sagte: »Wie schön.« Delfine konnte sie auch im Zoo sehen, ein weiterer Grund, warum sie nie in den Zoo ging. Fische, selbst wenn sie Säugetiere genannt wurden, mochte sie nur auf dem Teller. Frischen Thunfisch auch gerne blutig.
Sie langweilte sich.
Sehr.
Sie sehnte sich nach Unterhaltung. Nach richtiger Unterhaltung. Reden, sie wollte reden. Aber über was? Über den Einfluss von Otto Dix auf Lucian Freud, über die Körpertherapie von Moshe Feldenkrais oder die Bioenergetik bei Boyesen? Wohl kaum. Dabei redete sie mit jedem, sie besaß keine Berührungsängste. Ihre Gesprächspartner mussten nur ihre Art akzeptieren, sie mussten akzeptieren, herausgefordert und angegriffen zu werden, sie mussten kämpfen und parieren, sie durften gerne ihre Contenance verlieren und sich selbst vergessen. Wer sich aber beleidigt fühlte, hatte schon verloren, denn sie beleidigte nicht, sie spielte höchstens. Zerstörung war nie ihr primäres Ziel. Sie besaß nur keine sozialpädagogische Redekultur. Sie verachtete Sozialpädagogik. Das Leben, sagte sie immer, sei zu kurz für verlogene Nettigkeiten. Mochten die Heuchler in ihrer Belanglosigkeit ertrinken, sie wollte lieber mit Drachen kämpfen, als Ponys streicheln. Um wie viel wunderbarer waren doch Gespräche, in denen es zischte, wisperte, grollte und donnerte, das Blut in die Köpfe schoss und in fanfarender Begeisterung oder säuselnder Bosheit pariert wurde. Wie schön waren doch Finten, die geschlagen, und Minen, die gelegt wurden, wie schön waren in engelsgleicher Stimme liebkoste Wörter, die kleine Wunden schlugen, die blieben und Narben hinterließen, wie schön war es doch, wenn Menschen sich begeistern konnten, so oder so. Das Delirium kam noch früh genug. Sie unterhielt sich gerne. Egal mit wem, ob reich oder arm, berühmt oder berüchtigt, dick oder dünn, schön oder hässlich. Sie hatte keinen Standesdünkel. Nur einen Bildungsdünkel. Und auch dieser hatte nichts mit Zeugnissen oder Urkunden zu tun. Nur mit der Fähigkeit, denken zu können, denken zu wollen, und sich seiner eigenen Nichtigkeit immer bewusst zu sein. Sie mochte einfach keine dummen Menschen. Aus Prinzip nicht.
Der Fischer hinterließ keinen dummen Eindruck. Auch hatte er schöne Hände, wohl geformt und ungewöhnlich schlank für einen Mann seiner Statur. Und doch fanden sie keine gemeinsame Basis, kein Thema, um diese unerträglich langweilige Fahrt mit ein wenig Geist und Geschwätz zu überbrücken. Selbst gegen famos vorgetragenes Seemansgarn hätte sie nichts einzuwenden gehabt, sie fühlte sich gerade so kolonial, in nachsichtiger Großmut gar. Über die Insel und die Einwohner wollte sie ihn nichts fragen, sie würde schon noch früh genug erfahren, wie unsagbar trostlos so ein Eingeborenendasein war. Sie erwartete nichts. Außer Inzest, Pest und Cholera. Sie kannte Kleinstädte und Dörfer als muffige, kulturlose, xenophobe, selbstgerechte Gemeinschaften. Auf einer abgelegenen Insel musste sich das alles noch um ein Vielfaches potenzieren. Gwynfaer. Schon dieser Name. Wer lebte denn freiwillig auf einer Insel, die kaum jemand kannte, auf der keine 3000 Menschen ihr verwittertes Dasein fristeten, verlorene Seelen, die von einem besseren Leben träumten, die ihr karges Ich für eine bunte Perlenkette eintauschen würden. Wahrscheinlich konnten sie nicht einmal lesen. Wozu auch, wenn sie nur ans Penetrieren dachten. Und jetzt musste ausgerechnet sie, die Großmeisterin der Kultur, die selbst noch im Olymp Begeisterungsstürme entfachte,
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