Gretchen
Entwicklungshilfe leisten. Dabei war sie doch durch mit dem Theater. Das Schauspiel, das sie liebte, das gab es nicht mehr. Die Revolution war nur noch Attitüde, das Spiel nur noch Geplänkel, ein Haus voll mit Zinnober und Krachmeierei. Und das Schlimmste war ihr immer das sozialkritische Theater, das sie regelrecht verachtete. Für ein Kinder- oder Jugendtheater, geschenkt, kein Problem, gut so. Aber erwachsenen Menschen auf der Bühne ein Stück zu präsentieren, in dem es um sexuelle Übergriffe, häusliche Gewalt, Magersucht, Homophobie, Migrantenprobleme oder Schmickschmock ging, da hörte bei ihr der Spaß auf. Als wären Theatermenschen die Erziehungsberechtigten ihres Publikums. Und wen wollte man denn da wachrütteln? Den linksalternativen Gartenlandschaftsbauer, den kulturkonservativen Oberstudienrat, die rebellische Anglistikstudentin oder den libertären Anthroposophen? Wohl kaum. Es gab bei solchen Themen einen gemeinsamen Konsens, den konnte man jeden Tag in einer Zeitung nachlesen, dafür brauchte es kein Theater. Es waren nur kleinbürgerliche Themen für kleinbürgerliche Menschen. Auch das große Thema war ihr völlig fremd. Krieg, Klimawandel, Terrorismus, Herrgott, schlimm, klar. Nur nicht auf einer Bühne, und wenn doch, dann nur als Rahmenhandlung. Es konnte immer nur um die kleinen Dinge gehen, die kleinen privaten Fehden und Schicksale, denn erst dadurch kam man zu den wirklich großen Themen wie Liebe, Hass, Triebe, Neid, Vernunft, Moral undsoweiterundsofort, auf die alles andere aufbaut, die alles andere begründet, die Magersucht, den Krieg, den Klimawandel, alles.
In England, ihrer Wahlheimat, ging sie gar nicht mehr ins Theater. Es war ihr dort immer zu rüschig, zu viel Kostüm, zu viel Humor, zu viel Schauspiel und zu wenig Regie. Egal wo sie war, ob im Royal National oder im Royal Court Theatre, ob Hampstead oder Donmar, nie war die Begeisterung mit ihr durchgegangen für dieses nur spärlich subventionierte Theater, das sich nur selten ein festes Ensemble leisten konnte. Und versuchte es sich experimentell, so ging es nicht selten in die Hose.
Das letzte Mal hatte sie es in Berlin besucht, das Theater. In dieser Hauptstadt. Der Deutschen. An gleich zwei Abenden. Wilma hatte sie genötigt, eine alte Freundin, eine Kostümbildnerin aus bald vergessenen Zeiten. Zuerst gingen sie ins Off-Theater, in einer ehemaligen Spinnerei. Das Stück hieß: wenn mr. dctp noch einmal ja sagt, schieße ich mir in den kopf. Theater von jungen ambitionierten Menschen, die, o Überraschung, eine Videokamera besaßen. Es war, wie Gretchen Morgenthau urteilte, jung und ambitioniert. Und gewagt und radikal und total aufregend. Natürlich. Schade nur, dass naturalistisches Theater nicht das Ihre war, dass sie unangenehm berührt war, wenn erwachsene Menschen daumenlutschend in Windeln gesteckt wurden und Popo brüllten. Und wenn dann auch noch in völliger Hilflosigkeit Fäkalien zum Einsatz kamen, dann hörte für sie der Spaß auf, dann hatte sie nie viel mehr als Mitleid übrig, und Mitleid war seit jeher die ekligste Erfindung der Menschen. Sie hätte an diesem Abend am liebsten alle erschossen, Schauspieler, Zuschauer, Taxifahrer, Kellner, Bürger, nur die Blockflöte des Todes nicht, die an einer Mädchenhaarallergie litt und im Radio komische Lieder sang. Und dann war sie noch in diesem alten Krawallladen zu Besuch. Castorf, Der Spieler, auch mit Video. Knapp fünf Stunden waren es. Wieder mal. Eine Unverschämtheit. So ein langer Kindergeburtstag. Die 50-jährige Rotzgöre mit der fulminanten Stimme gefiel ihr, und dieser Alexej Iwanowitsch, herrje, da hätte sie sich beinahe verliebt, ersteblickmäßig, sie hatte schon immer eine Schwäche für diese dürren Revoluzzerjungs, die so niedlich spielten, aber er war ihr ein bisschen zu alt. Beinahe 40. Und auch wenn es ein netter Abend war, so konnte die Inszenierung bei ihr weder Glut noch Wehmut entfachen, Hunger auf Kartoffelsalat, ja, partiell dezentes Wohlwollen, ja, aber das war ihr nie genug, das war wie Kautabak. Sie hatte einfach keine Lust mehr aufs Theater. Anfangs, als sie das erste Mal diese Unlust verspürte, vor fünf Jahren, als sie in Wien auf Godot wartete, da war sie noch ein wenig erschrocken, keine Lust, was sollte das denn heißen, fragte sie sich, keine Lust. Sie mochte es doch trotz aller Widrigkeiten, sie liebte doch die Reibung und den Kampf, wenn es dorstet, dornt und müllert, hackst, schillert und jandlt. Theater war ihr
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