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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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gekracht hat. Künstlerseelen wie die unseren müssen erst aneinandergeraten, damit Neues entstehen kann, Großes, das in einer Supernova endet und nicht mit einer Gehstütze.«
    »Hm.«
    »Spotte nicht, mein Güldenstern. Wir werden Geschichte schreiben! Dies werden die letzten Meter unserer Jungfräulichkeit im Kosmos der Hochkultur sein, in Bälde soll Jericho beben oder Theben, ganz gleich, Hauptsache Gewalt, Umsturz, Chaos und ein hübsches Quantum an zügellosem Sex mit willigen Nymphen auf der Besetzungscouch.«
    Als sie den kleinen Hafen erreichten, der keine zehn Boote gleichzeitig zu beherbergen vermochte, sahen sie das ganze Ausmaß der feierlichen Vorfreude. Der Steg war mit bunten Gerbera und silbernen Schleifen geschmückt. Zwei einsame Stehtische waren in weißes Tuch gekleidet und standen tapfer umher. Keine 30 Einwohner hatten sich versammelt. Inklusive Chor. Tule hatte tags zuvor noch angeboten, Die Unsterblichen für ein Willkommenslied zu reaktivieren, stieß damit aber auf wenig Gegenliebe, in einigen Gesichtern strahlte gar der blanke Hass. Ähnlich begeistert zeigte sich das Begrüßungskomitee. Pius, der Pfarrer, der in Gwynfaer für alle Weltreligionen zuständig war, schnüffelte ein wenig am Weihrauch. Seine Schäfchen beachtete er nicht weiter, er schaute vielmehr seine Hände an, als würde er sie zum ersten Mal in seinem Leben sehen. An vorderster Front stand Jonna, die Matriarchin aus dem Hause Pellberg, eine unangenehme Person, wie allseits bekannt. Sie hielt ein Plakat in ihren Händen, sie hielt es, so hoch sie konnte. Auf dem Plakat stand: »Wir überfremden!« Gleichwohl Bürgermeister Arne die offenkundige Xenophobie missbilligend kommentierte, wich Jonna nicht ein Jota von ihrer Position ab. Kyell zeigte Verständnis für ihr Verhalten, war die Befürchtung vor einer Invasion doch nicht ganz von der Hand zu weisen. Es wurden tatsächlich von Jahr zu Jahr mehr Fremde. Alleine in den letzten sechs Monaten waren es drei. Auf einmal. Und auch wenn die Segler sich verfahren hatten und nur für eine Nacht blieben, so schien die Abgeschiedenheit mit jedem Tag ein Stückchen weiter in die Ferne zu rücken.
    Weiter links stand Milla und biss sich gedankenverloren auf die Unterlippe. Wenn es etwas gab, das Kyell völlig verrückt machte, dann, wenn Mädchen so etwas taten. Und Milla war eine Meisterin im Auf-die-Unterlippe-Beißen. Sie trug ein weißes kurzes Strickkleid mit aufgestickten grünen Elefanten am unteren Saum, sie hatte einen Blumenkranz aus Margeriten im Haar und am rechten Knie noch Schorf von ihrem Sturz mit dem Skateboard. Sie sah wunderschön aus. Sie sah allerdings nicht aus wie eine Frau, die gerne schluckt. Kyell tat so, als würde er Milla nicht sehen. Und auch Milla tat, als würde sie Kyell nicht sehen, oder aber, was noch viel schlimmer gewesen wäre, sie sah ihn wirklich nicht. Der Tod, dachte Kyell, und er wusste selbst nicht so genau, warum, ist ja eigentlich das faszinierendste Ereignis im Leben. Und gerne hätte er Milla noch ein wenig länger nicht angeschaut, doch Arne schritt eilends auf sie zu, er schien ein wenig erregt zu sein, rote Flecken sprenkelten sein Gesicht, das er hektisch mit einem Stofftaschentuch tupfte.
    »Tule, wie schön«, sagte der Bürgermeister in einem nahezu tuschelnden Tonfall, Kyell beachtete er gar nicht weiter, »ich möchte noch mal meinen Dank aussprechen, dass du die Rede geschrieben hast. Großes Talent, wirklich, großes Talent. Ich habe zwei Tage lang geprobt. Ich bin ein wenig unsicher, was die äußerst komplexen Sätze anbelangt. Und findest du den Mittelteil nicht etwas zu lang, und meinst du nicht, dass das Finale etwas zu, wie soll ich sagen, ungewöhnlich ist?«
    »Mein lieber Arne«, sagte Tule in einer etwas zu vertrauensseligen Art, »gewiss doch ist das Finale ungewöhnlich, wir haben es hier mit der Hochkultur zu tun, und da wollen wir doch nicht wie tumbe Hinterwäldler erscheinen, oder?«
    »Nein, nein, natürlich nicht.«
    »Eben, und deshalb habe ich mir erlaubt, die liebe Paraphrasierung die liebe Paraphrasierung sein zu lassen und ordentlich in die Tasten zu hauen. Wir werden die Lady beeindrucken, sie wird an deine Rede noch denken, wenn sie längst den Odem des Vergessens einatmet.«
    Arne kniff die Augen leicht zusammen, er wirkte verunsichert. Er blickte Tule einen Moment lang ernst an, dann schaute er verträumt aufs Meer und nickte kaum wahrnehmbar. Ja, es war gut möglich, dass künftige

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