Gretchen
Kabel schlängelte sich zum Videoeingang des Fernsehgeräts. »Dann wirkt ihr Leben bedeutend.«
Die DVD-Fernbedienung lag neben der für den Fernseher auf dem Kaffeetisch. Archie zückte einen Stift und schaltete das Gerät damit ein, dann drückte er den Abspielknopf auf der DVD-Fernbedienung.
Ein schiefes Bild des Raums, in dem sie sich befanden, erschien auf dem Monitor. Ein Sessel war vor die Collagenwand gezerrt worden. Plötzlich trat ein junger Mann vor die Kamera. Er war älter, das braune Haar länger, der Körper ein wenig ausgefüllt, aber Susan hatte recht, es war der mittlere Junge von dem Foto.
Der Mann fummelte eine Weile an der Kamera herum, bis sie gerade stand, dann ging er zurück und nahm in dem Sessel Platz. Graues T-Shirt. Jeans. Barfuß. Rosenkranz um den Hals.
»Großer Gott«, sagte Susan. Sie kramte ihr Notizbuch aus der Tasche, öffnete es, setzte sich auf die Couch und starrte auf den Schirm. Archie überlegte, ob er sie auffordern sollte aufzustehen und ihr einen Vortrag über die Beweisspuren halten sollte, die sie auf die Hose bekam, aber irgendwie brachte er die Energie nicht auf.
Der Tote blickte zu jemandem außerhalb des Bilds. »Nimmt es auf?«, fragte er. Die Person nickte offenbar, denn der Tote lächelte schüchtern in die Kamera. »Okay«, sagte er. Er schlug die Beine übereinander, umfasste das obere Knie mit dünnen Fingern und beugte sich vor. »Wenn ihr das seht, tja, dann ist alles schiefgegangen.« Er holte Luft, blies die Backen auf und atmete seufzend aus. »Also sollte ich die Sache wohl erklären«, sagte er. »Als ich acht war, bekam mein Bruder Pfeiffersches Drüsenfieber. Er war damals zwölf. Wir wussten nicht, dass er es hatte. Er hatte sich seit einem Monat über einen rauen Hals beschwert, aber meine Eltern hielten es für eine Erkältung. Die Sache bei Pfeifferschem Drüsenfieber ist die, dass sich die Milz dadurch vergrößern kann. Deshalb verbieten sie einem sechs Wochen lang größere Anstrengungen. Mein Bruder ist beim Sportunterricht mit einem anderen Kind zusammengestoßen. Es war eine dieser irren Geschichten.«
Archie setzte sich neben Susan auf das Sofa.
»Man kann ohne Milz leben«, fuhr der Tote fort.
»Und genau das machen sie bei einem Milzriss. Sie nehmen sie einfach heraus.
Er war eine Woche lang im Krankenhaus. Alle in seiner Klasse haben eine Karte für ihn gemacht.
Damals habe ich angefangen, darüber nachzudenken.«
Der Tote zog einen Mundwinkel hoch. »Himmel, das hört sich verrückt an, oder?«
»Können Sie es anhalten?«, fragte Susan, während sie hastig Notizen machte.
»Nein«, sagte Archie.
»Ich spielte Krankenhaus. Tat so, als hätte man mir ebenfalls die Milz entfernt. Ich trug einen Verband und alles.
Irgendwann war es dann kein Spiel mehr. Ich wollte sie draußen haben. Sie fühlte sich schmutzig an. Wie ein Fremdkörper, der in mir steckte, wie ein Tumor. Ich wurde ziemlich besessen davon. Ja, ich weiß, wie sich das anhört. Ich habe alle möglichen Therapien gemacht.«
Der Tote legte eine Hand auf die Milz unter dem Rippenbogen, und Archie bemerkte, dass es dieselbe Bewegung war, mit der seine Hand zu der Narbe ging, die ihm Gretchen hinterlassen hatte. Er steckte die Hand zwischen die Oberschenkel und behielt sie dort.
»Ich fand einen Arzt in Tijuana, der sagte, er würde die Operation durchführen«, fuhr der Tote fort. »Und nachdem er in letzter Sekunde zurückgezogen hatte, wurde ich ernsthaft deprimiert. Dann brachte mich ein Freund auf diese Website, und die sagten, sie könnten mir helfen. Es tut mir leid, Mom, Dad, alle. Ich weiß, ich kann dabei sterben.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Aber wenn ich sie nur endlich loswerden kann, wird es mir besser gehen.«
Das Video endete, und der Schirm wurde blau.
Susan schrieb immer noch. Archie konnte an ihrem Hals sehen, wie schnell ihr Puls ging.
»Es war nicht Gretchen«, sagte er. »Sie hat ihn nicht getötet.«
»Das sind Fans«, sagte Susan, ohne aufzublicken. »Möchtegerns.« Sie hörte auf zu schreiben, legte den Stift auf ihr Notizbuch und drehte sich zu Archie um. Ihr Gesicht war blass. »Sie bewerben sich, sie spielen ihr vor.«
Archie schüttelte den Kopf. »Und Sie glauben, ich sei verrückt.«
_ 31 _
Die Sehnen an Henrys Hals traten hervor, und seine Ohren waren radiergummirosa. Susan musste sich anstrengen, nicht zusammenzuzucken, als er vor ihr und Archie stand. Die beiden saßen immer noch auf der Couch. »Habt
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