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Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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Maskierte. »Lass sie hier.«
    Sie sah Archie fragend an, und er nickte, dann drehte sie sich um und lief, die Hände weiter an die Wange gepresst.
    Der Maskenmann nickte Archie zu. »Lass mich deine sehen«, sagte er.
    Archie lächelte. »Natürlich.«
    Er langte mit der linken Hand nach oben und begann, sein Hemd aufzuknöpfen. Das Mädchen tauchte schräg hinter dem Maskierten auf, und schließlich gesellten sich auch die Männer hinzu, die beim Heizkessel gestanden hatten. Shark Boy fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie alle wollten Gretchens Werk persönlich sehen.
    Als Archie sein Hemd aufgeknöpft hatte, streckte er die Hand aus und hob das T-Shirt des Maskenmanns wieder an. Er verglich den Schaden.
    »Es ist nicht so verschieden«, sagte er.
    Der Mann in der Maske blickte gar nicht mehr in Archies Gesicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Archies Brust. Er streckte die zitternden Hände aus und strich mit den Fingerspitzen über die Topografie von Archies Narben.
    Während er das tat, ging Archies rechte Hand zur Taille, er ließ das Skalpell fallen und zog die Waffe aus dem Hosenbund.
    Das Skalpell schlug klirrend auf dem Beton auf, der Maskierte und Shark Boy, das Mädchen und die beiden anderen Männer sahen reflexartig zu Boden. Als sie wieder aufblickten, hatte Archie die Waffe auf das Brustbein des Maskierten gerichtet.
    »Ich verhafte dich wegen Angriffs mit einer tödlichen Waffe«, sagte er. »Mindestens.« Er hielt inne. »Und danke. Dank euch fühle ich mich wieder sehr normal.«
    Archie sah den Lichtblitz einen Sekundenbruchteil bevor ihn der elektrische Schlag traf. Der Schmerz löschte jede andere Empfindung aus. Er war schon einmal von einem Taser, einer Elektroschockpistole getroffen worden, während der Ausbildung auf der Polizeiakademie. Es half ihm nichts. Es war nichts, woran man sich gewöhnen konnte. Alle seine Muskeln verkrampften, und er stürzte bewegungsunfähig zu Boden. Informationen kamen brockenweise in seinem Gehirn an. Er hatte die Waffe verloren. Es war das Mädchen gewesen. Sie hatte ihn von hinten erwischt, unter dem Rippenbogen. Sie gab einen zweiten Schuss auf dieselbe Stelle ab. Er krümmte sich auf dem Boden, überwältigt von dem elektrischen Impuls, der jede Zelle vibrieren ließ. Das Mädchen. Sie war noch ein Kind. Wie Jeremy.
    Wie alt? Sechzehn?
    Sie schoss noch einmal mit der Taserpistole. Sein Körper zuckte unfreiwillig und wirbelte einen kleinen Staubsturm vom Boden auf. Die gelbe Birne an der Decke wurde kleiner, als würde sie sich entfernen.
    Sie hatten die Elektroschockpistole nach einem alten Abenteuerbuch für Kinder benannt: Tom Swift and His Electric Rifle. Taser. Das A hatte man eingefügt. Es war die Art unnütze Belanglosigkeiten, die Susan gern gewusst hätte.
    Es tat ihm leid, dass er es ihr nie gesagt hatte.

_ 40 _
    »Wie lange haben wir?«, fragt Gretchen.
    Archie zieht das Sakko aus und hängt es über die Stuhllehne. »Eine Stunde«, sagt er.
    Sie sind in ihrem häuslichen Büro, wo sie Patienten empfängt. Draußen ist es grau. Der Regen klatscht kalt und gleichmäßig gegen das Fenster hinter Gretchens Schreibtisch. Durch die Scheibe kann Archie sehen, wie sich die Pflaumenbäume in Gretchens Garten biegen und ihre purpurnen Blätter im strömenden Regen zittern.
    Gretchen geht zum Fenster und zieht die Samtvorhänge zu. »So lange?«, sagt sie und kommt zu ihm zurück.
    Es ist zehn Uhr vormittags, und Archie ist seit sechs Stunden wach, die meiste Zeit davon ist er draußen im Regen gestanden. Er hat seine schlammbedeckten Schuhe an der Haustür ausgezogen und steht in seinen nassen braunen Socken da.
    Sie bleibt einen Schritt vor ihm stehen und legt den Kopf an seine Brust, als würde sie nach einem Herzschlag lauschen. Der Geruch ihres Haars lässt die Zeit langsamer laufen. Wenn er bei ihr ist, kann er den Tod, der ihn umgibt, beinahe vergessen. Es ist einer der Gründe, mit denen er seine Besuche bei ihr rechtfertigt. Sie erhält ihn geistig gesund. Er kann seine Arbeit besser erledigen. Moralischer Relativismus.
    Archie hebt die Mappe in seiner Hand hoch. »Ich habe Henry erzählt, ich bekomme Beratung.« Er wirft die Mappe auf den Tisch.
    Sie hebt den Kopf und streckt die Hand aus, um sein nasses Haar zu berühren. »Was ist mit dir passiert?«, fragt sie.
    »Ich komme von einem Tatort«, sagt er. Es war die dritte Leiche in vier Wochen.
    Ihre Augen schimmern und füllen sich mit Zärtlichkeit. »Das tut mir leid«, sagt sie.

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