Gretchen
Leo. »Alle.«
Er sagte es mit so viel beiläufiger Zuversicht, dass ihm Susan beinahe glaubte.
Leo griff in die Anzugstasche, zog ein ordentlich gefaltetes Blatt Papier hervor und hielt es Henry hin. »Es ist ein Hotel in der Innenstadt«, sagte er. »Jeremy hat bis vor drei Tagen dort gewohnt. Ich habe die Rechnung bis einschließlich heute Nacht bezahlt, wenn Sie sich also sein Zimmer ansehen wollen, haben Sie bis morgen Mittag Zeit. Erst dann wird man seine persönliche Habe entfernen.«
Henry nahm das Blatt und sah es an. Er blinzelte ein paarmal. »Okay«, sagte er.
Susan sah zu den drei Gesichtern an der Wand hinauf. »Sie glauben nicht wirklich, dass Archie mit diesen Leuten gehen würde, oder?«, sagte sie.
»Sie wissen nicht, was er durchgemacht hat«, sagte Henry.
Sie wusste es nicht. Aber Jeremy Reynolds wusste es.
»Sie können Zeit damit verschwenden, sich eine richterliche Verfügung zu besorgen, oder ich, als die Person, die die Rechnung bezahlt hat, kann Sie in Jeremys Hotelzimmer einlassen«, schlug Leo vor.
»Wo ist der Haken?«, sagte Henry.
Leo lächelte. »Meine Gesellschaft«, sagte er.
_ 45 _
Das Joyce Hotel war eine heruntergekommene Bude in Downtown Portland, in der Gegend, die früher dank ihrer vielen Schwulenbars »Vaseline Alley« genannt wurde. Es war ein vierstöckiger Bau, mit einer schmutzigen, elfenbeinfarbenen Ziegelfassade und einer betagten waldgrünen Markise.
Henry, Claire, Leo und Susan betraten das Hotel durch die metallgerahmten Glastüren. Ein Schild listete Zimmerpreise von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Dollar pro Nacht auf. Hinter dem Empfangstisch gähnte ein zahnloser Mann, als sie an ihm vorbeigingen.
»Zimmer vier-sechsundzwanzig«, sagte Leo zu den anderen.
Sie durchquerten die schäbige Lobby und stiegen die mit braunem Teppich ausgelegte Treppe hinauf. Die Wände waren früher einmal weiß gewesen, doch nun waren sie beige mit Flecken. Die Handläufe und Fußleisten waren waldgrün gestrichen.
Vier-sechsundzwanzig lag im vierten Stock, ein kurzes Stück den Flur entlang vom Treppenhaus. Auf einem Aufkleber an der Tür stand KINDER BRAUCHEN BEIDE ELTERN! Leo schloss auf, und sie gingen alle hinein. Es gab ein Doppelbett, einen kleinen Nachttisch, eine Kommode und einen alten Röhrenfernseher mit dem Namen des Hotels an der Seite, für den Fall, dass jemand auf die Idee kam, ihn zu stehlen.
»Nun«, sagte Claire und streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über. »Dann wollen wir uns mal umsehen.«
»Ihr fasst nichts an«, knurrte Henry in Richtung Susan und Leo, während er selbst Handschuhe anzog.
Susan spazierte im Zimmer herum. Das Bett war gemacht, und zwei weiße Handtücher, die so oft gewaschen waren, dass sie aussahen, als würden sie brechen, wenn man sie berührte, lagen gefaltet auf der Bettdecke, ebenso wie ein Plastikbecher in Zellophan und zwei streichholzschachtelgroße Stück Seife.
»Er ist ordentlich«, sagte Susan. Niemand antwortete. Henry durchsuchte die Kommode, Claire inspizierte das Nachtkästchen. Leo schaute aus einem Fenster, das aussah, als wäre es mit Hühnerkäfigdraht verstärkt worden.
Susan ging zum Schrank und öffnete ihn. Nichts hing darin. Es gab nur drei Kleiderbügel aus Plastik – einer rot, einer weiß und einer blau. Und Dutzende von Fotos von Gretchen Lowell.
»Leute«, sagte Susan.
Henry trat hinter sie.
Sie erkannte den Urheber der Collage. Die perfekt geschnittenen Ränder. Es war dieselbe Person, die die Gretchen-Collage an der Wand in Fintan Englishs Haus gemacht hatte.
»Ich sagte doch, dass er unter einer Zwangsstörung leidet«, sagte Leo vom Fenster.
»Sie haben nicht übertrieben«, erwiderte Henry.
»Sieh dir das an«, sagte Claire.
Susan und Henry fuhren herum. Claire stand am Nachttisch und las in einem blauen Spiralheft.
»Sag, dass es ein Tagebuch ist«, sagte Henry.
Claire riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte sie und blätterte um. »Sinnloses Geschwafel hauptsächlich. Briefe an Gretchen. Und das hier.« Sie hielt eine Seite mit handgeschriebenen Absätzen und einer kindlichen Zeichnung eines Frauengesichts in die Höhe. »Es ist ein Entwurf für eine Kontaktanzeige im Internet. Eine Frau Mitte dreißig. Blond. Psychiaterin.«
»Der Pfleger«, sagte Susan. »George Hay. Seine Freunde sagten, er habe sich in letzter Zeit mit jemandem getroffen.«
»Vielleicht hat er Gretchen nie kennengelernt«, sagte Claire
Weitere Kostenlose Bücher