Gretchen
kümmerte es nicht. »Wir haben Gretchen Lowell romantisiert«, sagte sie. »Wir haben sie zu einer Berühmtheit gemacht.«
Ian verharrte vollkommen reglos, hielt den Stift immer noch in der Schwebe. Er wurde immer absolut starr, wenn er ungehalten war. Susan scherte sich nicht darum. Sie hatte ein Loch in der Backe, Archie war verschwunden, und sie saß in einer dämlichen Redaktionsbesprechung, und überhaupt würden sie sowieso alle entlassen werden. »Da draußen gibt es Leute, die sie für eine Heldin halten«, sagte sie. Sie sah ihre Kollegen der Reihe nach an. Vom Boden aus, unbequem an die Wand gelehnt. Derek saß in einem der Stühle. Derek bekam fast nie einen Stuhl. Susan konnte sich nur vorstellen, wie früh er gekommen sein musste, um einen zu erwischen. Und warum? Niemand wollte hier sein. Es war alles ein Witz.
Susan entknotete ihre Beine und stand auf. »Sie unterhalten Fanseiten«, sagte sie. »Sie halten ihre Wikipediaseite auf dem Laufenden. Sie erfinden Geschichten über sie. Von der Aufzeichnung des Anrufs unter der Notrufnummer, als sie sich stellte, hat jemand einen Remix und ein Musikvideo dazu gemacht. Man kann es sich auf YouTube ansehen. Es gibt T-Shirts mit ihrem Gesicht und der Aufschrift ›I ¤ Beauty Killer.« Sie schlüpfte in einen Stiefel und dann in den andern. »Esquire brachte sie letztes Jahr in ihrer Ausgabe ›Frauen, die wir lieben‹. Ich habe ihren Namen bei eBay eingegeben und bin auf jemanden gestoßen, der einen Satz Skalpelle verkauft, mit denen sie angeblich ein Opfer aufgeschlitzt hat. Das Gebot lag bei neunhundert Dollar.«
Sie stand da mit laufender Nase, das Gesicht bandagiert. Sie war so was von gefeuert. Mehr als gefeuert. Geächtet. Aber sie konnte nicht aufhören. Es sprudelte einfach so aus ihr heraus. »Wir haben das alles in die Welt gesetzt«, sagte sie und fuchtelte mit der Hand. »Einen Artikel nach dem anderen. Immer derselbe fade Mist. Alles nur, damit wir einen Vorwand haben, ihr Bild zu bringen, weil alle wissen, dass ein Bild von ihr den Kioskverkauf um fünfundzwanzig Prozent erhöht. Deshalb haben wir, wenn es nichts zu berichten gab, andere Gründe gefunden, über sie zu schreiben. ›Wir basteln uns ein Gretchen-Lowell-Halloweenkostüm.‹« Sie lachte gezwungen und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Das hab ich geschrieben.«
Ian schraubte seinen Stift zu und legte ihn auf den Schreibtisch. Er tat es mit ein wenig zu viel Schwung, und der Stift rollte über die Schreibtischplatte und fiel auf den Teppich. Niemand machte Anstalten, ihn aufzuheben. Niemand rührte sich überhaupt.
»Unser Geschäft ist es, Anzeigen zu verkaufen«, sagte Ian. »Wenn wir mehr Zeitungen verkaufen, können wir mehr für Anzeigen verlangen. Gretchen Lowell verkauft Zeitungen. Die Baltimore Sun, Chicago Tribune, L. A. Times – bei all denen hat man die Nachrichtenredaktionen drastisch entvölkert. Willst du mit einer Abfindung gehen? Oder willst du Artikel schreiben, die viele Leute lesen, damit die Anzeigenabteilung zu Starbucks gehen und sie überreden kann, eine viertelseitige Anzeige in unserem sterbenden kleinen Medium zu schalten? Denn entweder du verkaufst Frappuccino-Anzeigen oder du verkaufst Frappuccinos. Willst du also Zeitungsreporterin sein oder Kaffeeverkäuferin?«
»Ich möchte Journalistin sein«, sagte Susan. Schon in dem Moment, in dem sie es sagte, klang es absurd. An der Wand grinste jemand höhnisch.
»Dann schreib mir einen Artikel darüber, wieso man dir um zwei Uhr nachts im Großmarktgebiet ein Loch in die Wange gebohrt hat. Dann schreib mir zwei Spalten über die Besessenheit von Gretchen Lowell in unserer Kultur. Du kannst alles reinpacken, was du gerade gesagt hast.«
»Zwei Spalten?«, sagte Susan.
»Glaubst du, du kriegst sie voll?«
»Absolut«, sagte Susan.
»Dann los, mach dass du verschwindest«, sagte Ian.
Sie sah ihn an. Vielleicht war er doch kein totales Arschloch.
Einer der andern Reporter hob die Hand. »Darf ich auch gehen?«
»Denk nicht mal dran«, sagte Ian.
Susan verließ den Raum rückwärts und zog die Tür hinter sich zu, ehe Ian es sich anders überlegen konnte.
_ 50 _
Anne Boyd war die beste Profilerin, die Henry kannte. Sie war die dritte gewesen, die das FBI zur Mitarbeit bei der Beauty Killer Task Force geschickt hatte, und sie war monatelang in Portland geblieben, getrennt von ihrem Mann und den beiden Jungen. Henry rief sie von einem Tisch vor dem Taco Del Mar am Martin Luther
Weitere Kostenlose Bücher