Gretchen
Archie.
Sie sah das Glitzern der Waffe, bevor sie die Waffe selbst sah. Die Klinge war orangefarben, mit Rost überzogen, und der Holzstiel war zu einem weichen Grau ausgebleicht. Jeremy bewegte sich schnell und mit erhobener Axt auf sie zu. Susan glaubte, ihn schreien zu hören, aber in ihrem Kopf dröhnte es so laut, dass der Schrei auch von ihr selbst stammen konnte.
Sie löste ihren Arm von Archies Hüfte, hielt die Sprühdose hoch, schloss die Augen und drückte auf den Verschluss.
Sprühen, weitergehen.
Sie konnte nicht weitergehen. Sie versuchte es, aber sie war wie mit dem Boden verwachsen und wappnete sich für den Hieb der Axt. Noch immer hörte sie das Schreien.
Lizzie Borden greift zum Beile,
hackt Mama in vierzig Teile,
das Ergebnis freut sie sehr,
bei Papa wird’s ein Teil mehr.
Lizzie Borden hatte ihre Stiefmutter ermordet, nicht ihre Mutter. Und sie hatte es mit nur neunzehn Axthieben getan.
Archie warf sie zu Boden. Wie er das machte, da er kaum gehen konnte, wusste sie nicht. Vielleicht ließ er sich einfach fallen und zog sie mit.
Sie öffnete die Augen genau in dem Moment, in dem die Axt neben ihrem Kopf auf den Beton einschlug. Der Boden bebte, und Funken stoben von der Klinge.
Die Axt wurde wieder gehoben, und Susan bedeckte den Kopf mit den Händen.
Und dann gab es einen weiteren Schuss – viel näher diesmal und ein Körper schlug dumpf auf den Beton auf, begleitet vom metallischen Klirren des Axtkopfs.
Susan ging im Geist rasch ihre Gliedmaßen durch. Kein rasender Schmerz. Ihr Kopf schien noch mit dem Hals verbunden zu sein.
Sie öffnete die Augen und hob den Kopf. Keuchte. Archie lag auf ihr, um sie vor dem Axthieb abzuschirmen. Er wälzte sich von ihr und setzte sich auf.
Henry kam auf sie zu, die Waffe weiter auf Jeremy gerichtet, der nun mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag.
Polizisten kamen aus allen Richtungen herbeigestürzt – was Susan eindrucksvoll fand, denn soweit sie feststellen konnte, gab es nur zwei Türen. Sie hatten ihre Waffen gezogen und schienen alle gleichzeitig zu rufen, aber Susan war so benommen, dass sie nichts von dem Inhalt verstand.
»Es ist gut«, brüllte Henry. Er legte die Waffe weg und hob die Arme. »Wir sind okay.« Dann sah er zu Susan hinunter. »Ich sagte doch, Sie sollen warten.«
Ausnahmsweise wusste Susan nichts zu entgegnen.
»Das tut sie nicht«, sagte Archie. Er kroch zu der Stelle hinüber, wo Jeremy mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag. »Sie wartet nicht.«
»Ist Jeremy tot?«, fragte Susan.
»Es ist nicht Jeremy«, sagte Archie.
Claire brach durch eine Gruppe von vier ängstlich dreinblickenden Streifenbeamten, die mit gezückten Waffen dastanden. Sie hielt abrupt inne bei dem Anblick, der sich ihr bot, und sagte etwas zu den Streifenbeamten, was diese veranlasste, ihre Waffen sinken zu lassen.
Dann ging sie zu der Leiche.
Susan kroch ebenfalls näher, damit sie einen besseren Blick auf den Mann werfen konnte, der ihr beinahe den Kopf abgehackt hätte. Sein Gesicht war zur Seite gedreht, die Augen starrten leer, und der leicht geöffnete Mund ließ einer Reihe spitz zugefeilter Zähne erkennen. Die Kugel hatte ihn in den Nacken getroffen. Er war definitiv tot.
Archie sah zu Henry hinauf. »Jeremy ist vor etwa einer halben Stunde gegangen«, sagte er. »Ich weiß nicht, seit wann Shark Boy hier ist.«
Susan sah, wie Henry der Kiefer herunterklappte. Er blickte auf den Mann, den er gerade getötet hatte, und räusperte sich. »Das ist nicht Jeremy?«
»Er hat zu einem Schlag mit einer Axt ausgeholt«, sagte Claire. »Der Schuss war gerechtfertigt.«
Henrys Gesicht blieb einen Moment schlaff, dann ging ein Ruck durch ihn. »Der Verdächtige ist weiterhin flüchtig«, brüllte er in die Runde. »Sein Wagen steht noch vor dem Gebäude. Er ist möglicherweise also zu Fuß unterwegs. Strömt aus. Er hat eine halbe Stunde Vorsprung.«
Jemand drückte einen Lichtschalter, und fünfzig Neonröhren mit Gitterabdeckung sprangen an und beleuchteten alles und jeden. Susans Augen brannten. Archie hob die Hand, um sich einen Blutfleck von der Stirn zu wischen. »Würden Sie mir behilflich sein, meine Hose zu suchen?«, sagte er.
_ 58 _
Archies Task-Force-Büro war noch exakt so, wie er es zwei Monate zuvor verlassen hatte. Auf dem Kirschfurnierschreibtisch, einem Relikt von dem Bankmanager, der das Büro zuvor innegehabt hatte, stapelten sich Akten. Eine feine Staubschicht bedeckte seine
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