Gretchen
noch über dem alten Büro.
Pearl deutete auf eine Rostlaube, die auf der Straße stand. »Das ist Jeremys Auto«, sagte sie.
Henry riss das Funkgerät von der Konsole und forderte Verstärkung an.
Susan bekam eine Gänsehaut an den Armen. Entlang der gesamten krummen Laderampe des Gebäudes waren Plakate für die bevorstehende Folge über Gretchen Lowell von Americas Sexiest Serial Killers geklebt.
Henry hakte das Funkgerät ein und sah zu Susan hinüber. »Lassen Sie mich zuerst hineingehen. Bleiben Sie im Wagen und halten Sie die Türen geschlossen. Rühren Sie nichts an.« Und dann sah er, wie um ihren Protest von vornherein abzublocken, zu Pearl nach hinten und fügte an: »Sie müssen bei dem Mädchen bleiben.«
Susan hielt ihre Handtasche fester und schaute zu dem Gebäude, zu Gretchens Gesicht auf den Plakaten, der Axt auf dem alten Schild. Wenn Archie da drin war, brauchte er Hilfe. Es war keine Zeit, um zu streiten.
Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte.
Henry zog seine Waffe aus dem Halfter, bedachte sie mit einem letzten strengen Blick und stieg aus dem Wagen.
Sie nahm die Augen nicht von Henry, während er tief geduckt zum Gebäude lief, die Waffe vor dem Körper auf den Boden gerichtet. Die Tür auf der Rampe war einen Fußbreit offen, und sie sah Henry daranschlagen und etwas rufen, ehe er nach einem letzten Blick zurück zum Wagen hindurchschlüpfte.
Sie waren allein. Angst kroch wie ein Tropfen Wasser an ihrem Arm hinab, und sie holte eine der Sprühdosen aus ihrer Handtasche und stellte die Tasche dann in den Fußraum des Wagens.
Susan blickte in den Rückspiegel und hielt nach den blinkenden blauen und roten Lichtern Ausschau. Jede Minute würde man Sirenen hören. Wahrscheinlich waren Dutzende von Polizeiautos zu dieser Kreuzung unterwegs.
Henry würde die Lage sichern. Darauf konnte man bei Henry bauen – dass er die Lage sicherte. Jeremy hatte keine Chance. Fast musste sie lächeln. Sie würde gern sehen, wie er versuchte, Henry zu piercen.
»Jeremy hat eine Pistole«, sagte Pearl vom Rücksitz.
Susan fuhr herum. »Was?«
Pearl saß mit verschränkten Armen und zusammengesunken auf dem Rücksitz, die Schutzbrille auf dem Kopf wie eine Sonnenbrille. »Ist mir jetzt erst eingefallen«, sagte sie. »Er hat sie mir einmal gezeigt. Er sagte, er hat sie von seinem Vater bekommen.«
Susan legte die Hand auf den Mund und sank in ihren Sitz zurück, unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Henry war in das Gebäude gegangen. Sollte sie das Fenster herunterlassen und brüllen? Aussteigen? Ihn auf seinem Handy anrufen? Herausfinden, wie zum Teufel das Funkgerät funktionierte?
Sie drehte sich um und sah aus dem Heckfenster. Wo blieb die Unterstützung?
Dann hörte sie es.
Wäre sie gerade vorbeispaziert, hätte sie nicht gewusst, dass es ein Pistolenschuss war. Es war ein dumpfer Knall und hätte sich leicht als Fehlzündung eines Fahrzeugs oder als Feuerwerkskörper erklären lassen.
Aber es war nichts dergleichen.
In dem Gebäude war geschossen worden.
»Scheiße«, sagte sie.
»War das eine Pistole?«, fragte Pearl und hörte sich plötzlich so alt an, wie sie war.
Susan musste hineingehen.
Es gab jetzt keine andere Wahl mehr. Henry konnte angeschossen, blutend, da drinnen liegen. Sie raffte ihre Handtasche vom Wagenboden und warf sie zu Pearl nach hinten. »Bleib im Wagen. Wenn die Verstärkung eintrifft, erzähl ihnen, was los ist. In der Handtasche ist eine chemische Keule, falls du sie brauchst. Rühr sonst nichts von meinen Sachen an.«
Pearl sah blass aus. »Okay«, sagte sie.
Susan ging auf die Laderampe zu. Sie bewegte sich rasch, die Sprühdose in einer Hand, den Daumen auf dem Ventil. Ihre gesamte Konzentration war auf die Tür gerichtet. Geh zu dieser Tür. Geh hinein. Lass dich nicht erschießen.
Vier Menschen wurden in den Vereinigten Staaten stündlich erschossen. Der Gedanke beruhigte sie. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass einer davon Henry war? Archie? Vier Leute, also wirklich. Es war ein großes Land. Mehr als dreihundert Millionen Einwohner. Leute schossen genau in diesem Augenblick in wesentlich größeren Städten aufeinander – betrogene Liebhaber, wahnsinnig gewordene Schüler, Bankräuber, was man wollte.
Sie kam an die Tür. Die Tür stand immer noch einen Spalt offen, aber es war dunkel darin, und sie konnte nichts erkennen. »Henry?«, krächzte sie. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Niemand antwortete.
Sie hob die Sprühdose und
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