Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
wäre bemüht, sein Verhältnis zu ihrem Bruder zu verbessern. Doch dann bemerkte sie, dass er die Situation ausnutzte, um zwar bei ihr zu sein, aber nicht mit ihr reden zu müssen. Stattdessen unterhielt er sich mit Jake über das Wachstum des neuen Saatgutes oder die Fortschritte seiner Nachhilfeschüler beim Fechttraining – alles Themen, zu denen sie nur wenig beisteuern konnte.
Am schlimmsten auszuhalten waren für Joanna die Mahlzeiten. Anfangs hatte sie sich wie früher an einen der Studententische gesetzt und gewartet, dass Ian zu ihr kam. Aber das war nicht passiert. Meist nahm er bei seinen Freunden Platz, doch immer häufiger saß er mit ihren Studentinnen am Tisch, die ihn ungeniert zu umschwärmen begannen – worauf er sich mit sichtlicher Begeisterung einließ. Zuerst wollte sie es gar nicht glauben, doch es war so: Er saß bei den jungen Damen und sie alleine! Schließlich nahm sie wieder ihren Platz am Herrschaftstisch ein, um sich diese demütigende Situation zu ersparen. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Mittlerweile waren drei Wochen seit der Zwischenprüfung vergangen, und Ian hatte ihr absolut nichts über seine Abwesenheit erzählt.
Waren sie dann tatsächlich einmal nur zu zweit, hatte Joanna den Eindruck, als hörte er ihr gar nicht zu. Ian sah an ihr vorbei und wirkte abwesend, als ob er sich bei ihren Erzählungen langweilte. Mit der Zeit wurde sie immer gehemmter, überhaupt irgendetwas zu sagen. Die gemeinsame Nacht anzusprechen, traute sie sich unter diesen Umständen überhaupt nicht. Von seinem Alltag erfuhr sie nichts mehr. „Es ist alles wie immer, es gibt nichts Neues“, war seine Lieblingsantwort geworden. Alles in allem fühlte sich Joanna an den Beginn des Ausbildungsjahres erinnert, als sie nach ihrem Streit nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Im Gegensatz zu damals wusste sie diesmal jedoch nicht, warum das so war. Und es war kein Galad mehr da, der die Dinge zwischen ihnen beiden wieder in Bewegung bringen konnte. Doch sie war nicht bereit, aufzugeben. Schließlich konnte sie genauso starrsinnig sein wie er! Sie blieb freundlich und lächelte ihn so oft wie möglich an. Früher oder später würde er mit ihr sprechen, dessen war sie sicher.
„Für heute reicht es!“ Joanna strich sich mit der schmutzigen Hand die Haare aus dem Gesicht, während sie im Kräuterhaus stand und ihr Werk betrachtete. Seit zwei Tagen war sie zusammen mit einigen Dienstmädchen dabei, hier einen Großputz zu machen. Es war dringend notwendig, außerdem lenkte es sie vom Grübeln ab. Draußen war es schon dunkel, und ihre Helferinnen waren bereits gegangen. Und sie würde jetzt ebenfalls Schluss machen, obwohl noch nicht alle Arbeit getan war. Das musste bis morgen warten, auch wenn sie es dann alleine würde erledigen müssen. Denn morgen fand das Winterfeuer statt, und der Großteil der Dienerschaft hatte frei. Das Winterfeuer war ein traditionelles Fest, das auf einer Wiese hinter der Burg gemeinsam mit den Dorfbewohnern gefeiert wurde. Ein großes Lagerfeuer sollte den Winter vertreiben und den Frühling anlocken.
Joanna griff nach ihrem Umhängetuch, da öffnete sich die Tür des Kräuterhauses, und Ian trat herein. Überrascht blickte sie ihn an. Da er nur noch das Nötigste mit ihr sprach, hatte sie sein Kommen nicht erwartet.
„Guten Abend, Joanna. Ich habe Licht gesehen und wollte nach dir schauen. Hast du viel Arbeit?“
Sie staunte. So viel hatte er seit Wochen nicht mit ihr gesprochen. Sie wertete es als gutes Zeichen und gab bereitwillig Auskunft: „Ich habe mir für dieses Wochenende vorgenommen, das Kräuterhaus gründlich zu reinigen. Es war in einem grässlichen Zustand.“
„Brauchst du Hilfe?“
Joanna traute ihren Ohren nicht. „Sehr gerne. Ich benötige bestimmt noch den ganzen Sonntag, um fertig zu werden.“
„Dann komme ich und helfe dir.“
„Aber morgen ist der Tag des Winterfeuers. Da möchtest du doch bestimmt gerne hingehen“, warf sie unsicher ein.
„Wir räumen zusammen auf, und dann gehen wir gemeinsam zum Fest. Was hältst du davon?“
Tiefe Freude durchlief Joanna. Endlich, ihre Geduld hatte sich gelohnt! „Das ist eine schöne Idee. Ich lasse in der Küche einen Essenskorb packen, damit wir keine Zeit mit Frühstück und Mittagessen verlieren.“
„Ich freue mich. Bis morgen früh.“ Er lächelte und verließ das Kräuterhaus.
Joanna schüttelte den Kopf – sie konnte es kaum fassen. Ab morgen würde alles wie
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