Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
starrte Joanna ihm nach. Hunderte Male hatte sie sich das Wiedersehen mit ihm in ihrem Kopf ausgemalt, doch damit hatte sie nicht gerechnet. Ian hatte seine Abwesenheit weder entschuldigt noch gerechtfertigt. Er schien sich nicht einmal gefreut zu haben, sie wiederzusehen. Unvermittelt vernahm sie eine gehässige Stimme in ihrem Kopf: Was erwartest du? Er hat von dir bekommen, was er wollte, jetzt bist du uninteressant für ihn. Joanna schloss die Augen. Ian brauchte Zeit. Was immer die Gründe für sein Fortgehen gewesen waren, er würde es ihr erklären. Schließlich war er ihr Freund und vertraute ihr. Sie musste nur geduldig sein und warten, keinesfalls durfte sie ihn drängen! Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich besser. Sie blickte zum Kampffeld hinüber, wo Ian gerade sein Schwert gezogen hatte. Meisterhaft konterte er die Angriffe seines Gegners, und Joanna wusste, er würde eine sehr gute Bewertung erhalten. Doch die Leichtigkeit und Kreativität, die seinen Kampfstil sonst auszeichneten, fehlten heute.
Während Ian am Tisch der Kommission auf die Bekanntgabe seiner Note wartete, trat Jake hinter ihn.
„Schön, dass du den Weg nach Greystone zurück gefunden hast.“ Der Earl sah ihn an. „Wir müssen dringend reden. Komm heute Abend zu mir in die Bibliothek.“
Ian nickte. Es gab definitiv einiges zu besprechen.
„Setz dich, Ian“, sagte Jake zu ihm und wies mit der Hand auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Er selbst nahm dahinter Platz und legte seine Hände auf die Tischplatte. „Das Erscheinen deines Vaters hat mich absolut überrascht – dir ging es vermutlich nicht anders. Der Sinn seines Kommens war, uns mitzuteilen, dass wir etwas übersehen hatten: das lex patris . Leider muss ich gestehen, ich hatte es damals in Darkwood überhaupt nicht so verstanden. Dafür bin ich jetzt umso schlauer, was mein Wissen über dieses Recht betrifft.“
Das Gesicht des Earls verhärtete sich, und er wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch Ian unterbrach ihn. Das Schandrecht nochmals erläutert zu bekommen, würde er nicht überstehen. „Ich habe ebenfalls Erkundigungen über die Bedeutung des lex patris eingeholt. Ich weiß, ich bin kein Adliger mehr, sondern darf mich fortan zur Gruppe der Ehrlosen zählen.“
Jake zog die Augenbrauen hoch, fragte aber nicht, woher er diese Auskünfte hatte. „Ian, dass du den Status eines Rechtlosen hast, wissen nur vier Menschen – von deinem Vater abgesehen. Hier in der Burg sind es du und ich. Und das muss zu deiner eigenen Sicherheit unbedingt so bleiben! Niemand darf es erfahren, auch Joanna nicht. Sie muss sich nicht unnötig Sorgen machen.“ Er schaute ihn warnend an, dann sprach er weiter: „Ich habe am Abend nach der Zwischenprüfung ein Gespräch mit Laurentins Vater geführt. Der Earl of Crosslands hat angeboten, seine verwandtschaftliche Beziehung zum König zu nutzen, um dir zu helfen. Er kennt als Dritter die Wahrheit über dich. Gemeinsam haben wir beschlossen, eine Audienz bei König Theodoric für dich zu erbitten, um diese Sache zu klären. In ein paar Wochen solltest du vorgeladen werden.“ Jake machte eine Pause, bevor er weiterredete: „Ich bin überzeugt, der König adelt dich ohne zu zögern. Du hast nichts getan, mit dem dein Vater die Anwendung des lex patris rechtfertigen könnte. Bis du Greystone im April verlässt, bist du wieder ein Adliger.“
Ian teilte Jakes Zuversicht nicht, widersprach aber nicht. Der König war in keinerlei Weise verpflichtet, ihn wieder in den Adelsstand zu erheben. Und was mit ihm passierte, wenn er ein Ehrloser blieb, dazu hatte sich weder Galad noch Jake geäußert. Im schlimmsten Fall war es ihnen egal, da er sich dann nicht mehr in ihrer Nähe aufhalten durfte.
„Die vierte Person, die von deinem Standesverlust weiß, ist dein Bruder Ronen“, fuhr Jake fort. „Er und Charlotte trafen am Morgen nach der Schwertprüfung in Greystone ein.“
Ian ließ sich in den Stuhl zurücksinken. Das Wissen, seine Geschwister nach so langer Zeit nur um Stunden verpasst zu haben, schmerzte. Er musste sich zusammenreißen, Jake weiter zuzuhören.
„Dein Vater hat deinen Brief abgefangen, gefälscht und ihn mit einem späteren Datum versehen. Deshalb kamen sie nicht früher. In Zukunft werden wir unsere Korrespondenz über einen vertrauenswürdigen Freund von Ronen laufen lassen.“ Jake bemerkte Ians verstörten Gesichtsausdruck. „Es tut mir leid.“
Gerne hätte
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