Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
doch dieser amüsierte sich über Laurentins Offenheit.
„Bei uns ist das gerade andersherum“, erzählte Colin. „Ich habe zwei ältere Brüder, die ganz versessen sind aufs Kämpfen. Als Jüngster musste ich immer als Übungsgegenstand herhalten und kam dabei nur wenig zum Zug. Und in der Schule ging es dann nahtlos so weiter. Alle haben gerne mit mir trainiert, aber um meine Ausbildung hat sich niemand richtig gekümmert.“
Francis blickte auf den Boden. Fast trotzig begann er zu sprechen: „Ich habe kein Talent. Ich hatte immer gute Fechtmeister und Freunde, die mit mir geübt haben, aber ich kann es einfach nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Was willst du mit uns machen, Ian?“
„Ein paar andere Sachen ausprobieren. Allerdings wird es anstrengend.“ Er zwinkerte Laurentin zu, der daraufhin das Gesicht verzog. „Wir können anfangen, sobald ich die Erlaubnis von Lord Greystone habe.“
10
Wo steckte Joanna? Grübelnd saß Ian im Unterrichtsraum. Beim Frühstück heute Morgen hatte er sie ebenso wenig gesehen wie bei den Mahlzeiten der letzten beiden Tage. Jakes Eintreten unterbrach seine Überlegungen.
„Guten Morgen, meine Herren“, grüßte der Earl. „Ich werde Sie fortan in den Grundlagen der Kampfausbildung und der zeitgemäßen Kriegsführung unterrichten. Die Unterweisungen finden im Unterrichtsraum, auf freiem Feld und in der Waffenhalle statt. Wir werden uns unter anderem mit dem Aufbau eines Trainings, der Sicherung des eigenen Wohnsitzes und der Handhabung einer Arkebuse beschäftigen.“ Er bemerkte die verständnislosen Blicke einiger Studenten. „Eine Arkebuse ist eine Handfeuerwaffe“, erklärte er, „die auf den Schlachtfeldern zunehmend Verwendung findet – eine Weiterentwicklung der Faustrohre. Ein guter Stratege sollte mit ihren Vor- und Nachteilen mindestens ebenso vertraut sein wie mit seinem Schwert, wenn er siegreich sein will.“ Jake zog aus seiner Tasche ein abgewetztes Buch. „Damit werden wir beginnen. Es sind die Aufzeichnungen des berühmten Feldherrn Severin, der unter König Weldon gedient hat. Der Titel lautet Handwerk der Kriegskunst und wird uns einen ersten Eindruck vermitteln, auf was es heutzutage auf dem Schlachtfeld ankommt.“ Er legte das Buch vor Colin, der ganz vorne saß, auf den Tisch. „Colin, Ihr lest den ersten Abschnitt vor.“
Nachdem Colin geendet hatte, fasste Jake die wichtigsten Aussagen zusammen. „Machen Sie sich Notizen. Ihre Aufgabe wird sein, eine Zusammenfassung anzufertigen.“ Mit diesen Worten schob er das Buch weiter zu Francis, der neben Colin saß.
Der von Francis vorgetragene Abschnitt löste eine angeregte Diskussion unter den Studenten aus, da Feldherr Severin sehr rabiate Maßnahmen zur Durchsetzung von Disziplin unter den Soldaten vorschlug. Doch Ian hörte nur mit halbem Ohr zu. Gleich würde Jake das Buch Alexander zum Vorlesen weitergeben. Und das bedeutete, er selbst war als Übernächster an der Reihe. Nervös legte er seine Feder zur Seite. Zwar hatte sich seine Lesefähigkeit bedeutend verbessert, aber er hatte bis jetzt immer nur Galad oder Joanna vorgelesen – niemals einer Gruppe. Mittlerweile hatte Alexander das Buch an Philipp gereicht. Sein Herz raste und Ian wischte seine schweißnassen Hände an der Hose ab. Philipp beendete seinen Abschnitt und schob das Buch zu ihm herüber. Mit zitternden Fingern nahm er es entgegen und las stockend die ersten Sätze vor. Sein Mund war trocken und die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Im Raum wurde es still, und ihm war klar, wie furchtbar sich sein Vortrag anhörte. Er bemühte sich, schneller zu lesen und blieb nur noch mehr an den Wörtern hängen.
Aus der Ecke stöhnte Dogan genervt auf: „Bis Ian fertig gelesen hat, ist der Krieg vorbei.“
Ian schoss das Blut in den Kopf und er wäre am liebsten im Boden versunken.
„Na ja“, hörte er plötzlich Alexanders Stimme, „jedenfalls liest Ian besser als du rechnest, Dogan.“
Gelächter erfüllte den Saal, da alle ehemaligen Seaside-Schüler Dogans bescheidene Fähigkeiten im Kopfrechnen kannten. Während Jake um Ruhe bat, flüsterte Laurentin Ian die letzten Sätze ins Ohr, sodass er sie nur noch auswendig wiedergeben musste. Dann war er von der Qual des Vorlesens erlöst. Der Rest der Stunde lief an ihm vorbei, ohne dass er es merkte. Zu sehr war er mit dem eigenen Versagen beschäftigt. Kaum hatte Jake den Unterricht beendet, verließ er fluchtartig den Raum und ging in sein Zimmer.
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