Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
dem Bett.
„Nein“, murmelte sie schlaftrunken. „Ich hasse es, wenn du weggehst und mich alleine lässt.“
Behutsam deckte er sie zu. „Ich komme morgen wieder.“ Und ich würde jeden Tag für den Rest meines Lebens zu dir kommen, wenn ich nur könnte, fügte er lautlos hinzu.
Am Morgen darauf waren Joannas Schmerzen verschwunden. Dafür lag ihr der letzte Abend schwer im Magen. Sie war dankbar, diesen Tag noch alleine in ihrem Zimmer verbringen zu können, denn sie musste über die gestrigen Ereignisse nachdenken. Hatte sie geträumt oder war es wirklich geschehen? Hatte Jake versucht, sie über ihre Hochzeitsnacht aufzuklären, während Ian versteckt unter ihrer Bettdecke gelegen hatte? Und schlimmer noch: Hatte sie Ian gefragt, mit wie vielen Frauen er geschlafen hatte? Was war nur über sie gekommen? Der viele Kräutertee musste sie benebelt haben. Sie wollte nicht wissen, was sie ihm noch alles gesagt hatte.
Joanna stand auf und trat ans Fenster. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fielen in ihr Zimmer. Eine Bemerkung, die Jake gemacht hatte, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sah Ian in ihr lediglich eine Art Schwester? Ja, gab sie sich selbst die Antwort, denn nichts anderes hatte sieCharlotte versprochen, für ihn zu sein. Und auch sein respektvolles Verhalten ihr gegenüber sprach für diese Vermutung. Trotzdem störte sie die Vorstellung. Aber was sollte er stattdessen in ihr sehen? Vielleicht eine Frau, mit der er um ihrer selbst willen gerne zusammen war, meldete sich eine zaghafte Stimme in ihrem Inneren. Sie seufzte und ihre Finger strichen über die rauen Steine der Mauer. Lady Tamara hatte es wirklich geschafft, ihr Selbstbewusstsein in Bezug auf Männer zu untergraben. Warum sonst sollte sie sich über die Tatsache wundern, dass Ian nur eine freundschaftliche Beziehung zu ihr wünschte? Schließlich hatte sich in den letzten Jahren kein einziger Mann für sie interessiert. Weshalb sollte er eine Ausnahme bilden? Ian sah das Gleiche in ihr wie alle anderen Männer: nämlich nichts. Und das war auch besser so, tröstete sie sich.
Ian saß im Unterricht und versuchte sich zu konzentrieren, was ihm gründlich misslang. In Gedanken war er in Joannas Bett: Er sah sie, er roch sie, er spürte sie.
Der gestrige Abend war grotesk gewesen. Er hatte neben der Frau gelegen, die er liebte, mit einem körperlichen Verlangen, das schon schmerzhaft gewesen war – und hatte sich doch nicht bewegen dürfen, weil ihr Bruder ihn sonst auf der Stelle getötet hätte. Und als Jake endlich gegangen war, hatten sie ein Gespräch geführt, das ihn nur noch mehr aufgewühlt hatte. Wenn er ihre Bemerkungen richtig deutete, dann hieß das …
„Welche Meinung hast du zu den Ansichten des Philosophen Montfort, Ian?“ Jake sah ihn ungeduldig an.
Stumm schüttelte er den Kopf. Er hatte den Ausführungen des Earls nicht zugehört.
„Wie es aussieht, hat dir sein Werk die Sprache verschlagen.“ Jake wandte sein Augenmerk wieder der ganzen Gruppe zu. „Pierre Montfort, Sohn eines Kaufmanns aus der Hafenstadt Delaria, ist der bedeutendste Philosoph unserer Zeit. Im Bürgertum ist er so beliebt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Sie beim Besuch eines Banketts in der Stadt in ein Gespräch über ihn verstrickt werden. Und dann sollten Sie wenigstens seine grundsätzlichsten Gedanken kennen und verstanden haben, wenn Sie nicht für einen ungebildeten Bauern gehalten werden wollen.“
Kam es ihm nur so vor, oder hatte Jake ihn mit seinen letzten Worten gemeint?
„Deshalb“, fuhr der Earl fort, „erwarte ich bei Ihren Aufgaben ein gewisses Niveau. So etwas wie das hier“, er nahm ein Papier aus dem Stapel, der auf dem Pult lag, „ist absolut inakzeptabel.“ Er begann, den Text laut vorzulesen und einige der Studenten fingen an zu lachen.
Ian lachte nicht. Er kannte die Worte, die Jake mit spöttischer Stimme wiedergab – es waren seine. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass ihm diese Aufgabe nicht gut gelungen war, aber er hatte sich bemüht. Dass Jake sich nun darüber lustig machte, verletzte ihn zutiefst. Zu allem Überfluss legte der Earl nach Beendigung seines Vortrags das Blatt vor ihn auf den Tisch. Spätestens jetzt wusste auch der Letzte, wessen Aufgabe es gewesen war. Ian fühlte sich bis auf die Knochen blamiert. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Text. Normalerweise schrieb Jake stets Anmerkungen und Korrekturvorschläge darunter, doch darauf hatte er diesmal verzichtet.
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