Greystone Saga: Mit Schwert und Feder: 1 (German Edition)
Stattdessen hatte er alles mit einer einzigen roten Linie durchgestrichen. Demütigender und vernichtender hätte sein Urteil nicht sein können.
„Ian?“
Er hatte überhaupt nicht gemerkt, dass Jake immer noch neben ihm stand und ihn beobachtete.
„Ich will nachher mit dir sprechen.“
Während sich seine Mitstudenten nach dem Unterricht zum Mittagessen aufmachten, ging Ian zu Jake.
Der Earl sah ihn kühl an. „Es ist erschreckend, wie wenig du kannst, wenn Joanna und Galad dir nicht mehr helfend zur Seite stehen.“
„Ich habe mein Bestes versucht.“
„Das ist nicht gut genug! Für die Zwischenprüfung wird es nicht ausreichen. Ich habe den Eindruck, du bist mit dem Unterricht überfordert. Denk über meine Worte nach, es ist keine Schande, wenn du die Akademie abbrichst. Wir würden schon irgendwo eine Anstellung für dich finden.“ Er nickte ihm zu. „Mehr habe ich dir nicht zu sagen.“
Langsam verließ Ian den Unterrichtsraum. Jakes Worte dröhnten in seinem Kopf und vermischten sich mit seinen verhassten Erinnerungen: nicht gut genug für seinen Vater, nicht gut genug für Joanna, und auch nicht gut genug für Greystone. Er blieb stehen und rieb sich das Gesicht. Vielleicht sollte er Jakes Rat annehmen und einfach gehen? Nein! Er hatte sich vor Monaten selbst ein Versprechen gegeben und war nicht bereit, es zu brechen – noch nicht.
Joanna saß auf ihrem Bett und wartete. Das Abendessen war lange vorbei, und sie rechnete jeden Augenblick mit Ians Erscheinen. Ihre Gedanken schweiften zurück zum vergangenen Abend. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie gestern verlassen hatte.
„Hallo, wie geht es dir?“ Ian stand draußen vor dem offenen Fenster und sah sie lächelnd an.
„Schön dich zu sehen. Ich hatte schon die Befürchtung, dass du nicht mehr kommen willst.“
„Ich lasse mir auf keinen Fall die Fortsetzung von Jakes Aufklärungsunterricht entgehen.“ Er schwang seine Beine über die Fensterbank und sah sie in gespielter Verzweiflung an. „Schließlich bist du eingeschlafen, während ich mit dir im Bett lag. Das wäre einem erfahrenen Liebhaber wie Jake nie passiert! Ich habe noch viel von ihm zu lernen.“ Er sprang ins Zimmer und nahm wieder auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz.
Joanna lachte. „Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe heute meine Zimmertür abgeschlossen. Sollte Jake tatsächlich erneut kommen, bleibt dir diesmal genug Zeit für einen strategischen Rückzug.“
„Ich wusste es! Ich war so schlecht, dass du dein Bett nicht mehr mit mir teilen willst.“
Sie knuffte ihn in die Seite. „Das Einzige, was ich heute mit dir teile, ist mein Wissen über Philosophie.“
Seine gute Laune verpuffte schlagartig.
„So schlimm?“, fragte sie. Statt einer Antwort reichte er ihr die Aufgabe, die Jake korrigiert hatte. Joanna warf einen Blick darauf und ließ das Blatt sinken. „Ach, Jake“, seufzte sie. „Was hat er gesagt?“
„Zu der Aufgabe nicht viel, er hat sich darauf beschränkt, sie als schlechtes Beispiel vorzulesen. Später hat er mir vorgeschlagen, die Akademie zu verlassen, weil ich in seinen Augen mit allem überfordert bin.“
Joanna stöhnte. „Ian, versprich mir, dass du nicht ernst nimmst, was Jake gesagt hat!“
„Dass die Aufgabe schlecht ist oder dass ich nicht gut genug bin?“, fragte er sarkastisch.
„Du weißt, was ich meine! Es ist richtig, die Aufgabe ist nicht gut gelöst. Aber nicht, weil du zu schlecht bist, sondern weil du in deinem Leben zu wenig Unterricht hattest. Jake weiß das auch. Leider ist er im Moment geradezu versessen darauf, alle Menschen, die ihm nahestehen, zu verletzen – mit Worten und mit Taten.“ Sie machte eine Handbewegung zu seinem Oberarm. „Ich will nicht wissen, was er Galad gesagt hat, um ihn aus der Burg zu vertreiben.“ Sie blickte ihn verzweifelt an. „Du musst Verständnis für meinen Bruder haben.“
„Ich? Ich muss Verständnis für ihn zeigen?“ Fassungslos starrte er Joanna an. Wusste sie, was sie da von ihm verlangte?
„Ja. Wir wissen doch beide, dass Jake zurzeit nicht er selbst ist. Ignoriere seine Attacken.“
„Natürlich, nichts einfacher als das“, erwiderte er, doch sie schien die Ironie in seiner Stimme nicht wahrzunehmen. Kurz überlegte er, sie darauf anzusprechen, aber er wollte die Stimmung des Abends nicht verderben. So zuckte er lediglich mit den Schultern, folgte ihr zu den beiden Sesseln am Kamin und ließ sich ebenfalls darin
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