Greywalker
sie es wert wären. Aber ich tue es nicht. Dafür ist mir meine Zeit inzwischen wirklich zu schade. Aber Cam … Cam ist meine Zeit wert, denn er war sich auch nicht für mich zu schade. Finden Sie meinen Bruder. Und sobald Sie ihn haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Ich schulde ihm sehr viel, und er bedeutet mir noch viel mehr. Wenn ich Ihnen also noch irgendwie helfen kann, dann sagen Sie es mir.«
»Das werde ich.« Ich reichte ihr meine Visitenkarte. »Rufen Sie mich an, falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte.«
Sie betrachtete die Karte, als ob sie den Text darauf auswendig lernen wollte und steckte sie dann zwischen die Seiten von Dantes Divina Commedia. Vorsichtig hob sie Chaos hoch und drückte ihn an ihre Wange, um ihn ein letztes Mal zu liebkosen. Das Frettchen gähnte, knabberte sanft an Sarahs Nase und leckte sie ab. Sarah küsste das Tier und reichte es mir. Ich nahm es und steckte es vorsichtig in meine Tasche, wo es seinen Kopf oben rausstreckte, um auch ja nicht den Überblick zu verlieren.
Sarah brachte mich zur Haustür. Im Flur blieb ich stehen und sah sie an.
»Darf ich Ihnen vielleicht noch eine persönliche Frage stellen?«
»Klar«, erwiderte sie und strich Chaos über den Kopf.
»Was machen Sie hier eigentlich? Wem gehört dieses Haus?«
»Das Haus?«, fragte sie und blickte sich um. »Das gehört mir. Hier lebten früher einmal meine Großeltern. Ich habe es vor zwei Jahren geerbt, als die Treuhandfonds ausliefen. Meine Familie legt großen Wert auf diese Art von Fonds. Im Augenblick sehe ich es als eine Art Therapie. Ich versuche es ein bisschen zu renovieren. Und es sieht schon viel besser aus als im März, als ich hier eingezogen bin.«
»Und die Motorradteile draußen im Garten?«
»Die sind von meinem Freund oder halben Freund oder wie man das nennen will. Er ist gerade in Italien und besucht dort seine Familie. Ich mag dieses Durcheinander ganz gern, es erinnert mich an ihn.«
»Ach, deswegen auch Dante auf Italienisch.«
Sie errötete und sah weg. »Nein. Deswegen der italienische Freund. Darf ich Ihnen auch eine Frage stellen?«
»Gern.«
Sie überraschte mich. »Glauben Sie, dass ich gut mit Frettchen umgehen kann?«
Ich lächelte sie an. »Ja, da bin ich mir sogar sicher.« Ich gab ihr den Namen des Tierheims, aus dem ich Chaos damals geholt hatte, und riet ihr, dort anzurufen. Sie lächelte und sah auf einmal kaum älter aus als zwölf.
Als ich davonfuhr, winkte ich Sarah zu und sie winkte zurück. Ich musste zugeben, dass ich das Mädchen mochte, aber das Gespräch war auch eines der anstrengendsten gewesen, die ich in meiner Zeit als Privatdetektivin jemals geführt hatte. Obwohl ich mich in der Gegenwart anderer Frettchen-Freunde immer automatisch wohl fühlte, war ich diesmal doch froh, wegzukommen.
Als ich vor meinem Büro parkte, regnete es in Strömen. Große Tropfen fielen wie Wasserbomben auf die Straßen. Ich stellte sicher, dass Chaos in den Tiefen meiner Tasche verschwunden war und rannte los. Trotzdem wurden wir beide tropfnass.
Der Anrufbeantworter blinkte. Ich drückte auf den Knopf und stellte die Tasche ab. Chaos sprang heraus, rollte auf dem Boden herum und fing an, das Büro zu erkunden.
Die Stimme des Anrufers kam mir bereits angenehm vertraut vor. »Hallo Harper, hier spricht Will Novak. Ich dachte mir … na ja, vielleicht hast du ja Zeit und … und Hunger. Ruf mich doch an, wenn du heute Abend mit mir ausgehen möchtest.« Er nannte mir eine Telefonnummer, unter der ich ihn erreichen konnte.
Ein ungeduldiger Verehrer. Ich war zugegebenermaßen selbst schwer in Versuchung. Aber sich auf jemanden einzulassen, der auch nur im Geringsten etwas mit einem Fall zu tun hatte, konnte vieles unnötig verkomplizieren. Ich dachte ein Weilchen nach, was ich machen sollte, und stellte währenddessen Chaos etwas Futter und ein Schälchen mit Wasser auf den Boden. Er stürzte sich darauf, als ob er am Verhungern und Verdursten wäre.
»Was meinst du, kleiner Fellsack? Soll ich mit Will zum Essen gehen oder besser nicht?«
Chaos verputzte ein Schnäuzchen voll Futter, während ich ihm über die Schultern streichelte.
»Du hast recht. Essen ist immer wichtig. Ich rufe Will an.«
Dieser konnte allerdings nicht ans Telefon kommen, sodass ich bei Michael für ihn eine Nachricht mit meiner Privatnummer hinterließ. Er versicherte mir, dass Will so bald wie möglich zurückrufen würde. Dabei lachte er frech, was mich ebenfalls zum Lächeln
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