Greywalker
Will lachte, und ich zuckte zusammen. Seine sonore Stimme ließ es mir heiß den Rücken herunter laufen. »Michael ist mein kleiner Bruder. Er hinterlässt immer eine Nachricht auf meinem Piepser, wenn er ausgeht. So weiß ich, dass er gut angekommen ist.«
»Oh«, stammelte ich.
Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Ist schon gut. Du bist nicht die Erste, die das dachte. Genau genommen bin ich ja auch alt genug, um sein Vater zu sein. Aber unsere Beziehung liegt irgendwo dazwischen. Er war ein Nachzügler und wurde erst geboren, als ich schon ausgezogen war. Als er in dem Alter war, in dem man mit ihm kommunizieren konnte, trieb ich mich bereits in Europa herum. Ich habe also alles verpasst. Als unsere Eltern starben, übernahm ich die Verantwortung für seine Erziehung. Jetzt bin ich eben halb Bruder und halb Vater. Ich weiß immer, wo er gerade ist. Manche würden das vielleicht als paranoid bezeichnen, aber ich nehme an, ich habe einfach Angst, dass ich ihn irgendwo vergesse oder so. Wir haben beide Piepser, um ständig in Kontakt bleiben zu können. Übertrieben fürsorglich, oder?«
Ich zuckte mit den Achseln, um meine Verwunderung zu verbergen. »Mich darfst du nicht fragen – ich bin Detektivin und keine Psychologin. Also weißt du immer, wo er sich aufhält? Oder zumindest, wo er sein sollte?«
»Ja, so ziemlich. Und er weiß auch immer, wo ich gerade bin. Wir sind wie zwei Gewichte an zwei Enden eines Gummibands – früher oder später schnellen wir immer wieder zueinander zurück.«
»Ich wünschte, alle wären wie du und Michael. Das würde es so viel einfacher machen, manche Leute zu finden.«
»Du meinst deine Klienten?«
»Nein, aber deren Kinder und Ehepartner. Die meisten vermissten Personen sind reine Routine«, erklärte ich. »Meistens muss man nur ein bisschen in ihrer Vergangenheit herumschnüffeln und herausfinden, wie sie sich verhalten haben oder welche Gewohnheiten sie hatten, und schon hat man sie. Die meisten haben überhaupt keine Ahnung, wie man verschwindet – manche hatten allerdings auch gar nicht die Absicht. Sie hinterlassen Spuren wie ein Elefant im Schnee. Aber im Augenblick beschäftigt mich gerade ein Fall, bei dem es völlig anders ist. Der Junge hat anscheinend mit allem gebrochen und alle seine Gewohnheiten links liegen lassen. Er hat sich quasi in Luft aufgelöst.«
Will wurde blass. »Oh mein Gott, ich würde es nicht überleben, wenn Michael einfach wie vom Erdboden verschwunden wäre … Wenn jemand ihn kidnappen würde, dann würde ich vor Angst verrückt werden. Glaubst du, dass dem Jungen so etwas passiert ist?«
Ich beugte mich über den Tisch und berührte seinen Arm. »Nein. Ich glaube, er hatte einen guten Grund, zu verschwinden, und ich habe auch schon eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte. Aber ich muss zugeben, dass ich gerne wissen würde, warum er das gemacht hat. Das wurmt mich noch. Sobald ich weiß, warum jemand verschwunden ist, kann ich ihn relativ schnell ausfindig machen. Aber das Warum, das ist immer der springende Punkt. Zum Beispiel würde ich jemanden nicht allzu gern in einem Haus mit Cracksüchtigen suchen, ohne vorher genau zu wissen, worauf ich mich da einlasse.«
Er nickte. »Das kann ich gut verstehen.« Er spielte mit seinem Glas. »Du hast einen ganz schön gefährlichen Job«, fügte er hinzu und versuchte so, die Unterhaltung wieder in meine Richtung zu lenken. Vorläufig machte mir das nichts aus und ich ließ ihn gewähren.
»Das ist in Wahrheit nur halb so schlimm. Der größte Teil meiner Arbeit besteht aus Papierkram. Ich muss viele Unterlagen finden, Formulare ausfüllen, sie abheften und dann vor allem warten, warten und noch mal warten. Aber es ist immer noch besser als Kühe melken.«
Er grinste und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Kühe melken?«
Ich nickte. »Als ich klein war, habe ich oft meine Großeltern mütterlicherseits in Montana besucht. Die hatten eine Rinder-Farm, aber auch einige Milchkühe für den Eigenbedarf. Eines Morgens so ungefähr um halb fünf weckte mich mein Cousin, um mit mir die Kühe zu melken. Ich glaube, es sollte mir eigentlich Spaß zu machen. Aber ich stehe nicht auf Kühe – meine Lieblingskuh kommt mit Ketchup in einem Hamburgerbrötchen. Außerdem war ich müde und die riesigen Viecher rochen recht penetrant und machten mir Angst. Und Melken ist schrecklich, was der wahre Grund hinter der Erfindung von Melkmaschinen sein muss. Da bin ich mir inzwischen verdammt
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