Grim - Das Erbe des Lichts
und der Oberwelt bei ihnen zu finden.
Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass die Anderwelt durch die Magie der Feen befreit werden könnte — doch diese Freiheit hatte ihren Preis. Sie würde die Menschen das Leben kosten, alle Menschen, ganz gleich, ob sie gut oder schlecht waren, schön oder hässlich, dumm oder klug oder wie die ganzen absurden Kategorien der menschlichen Gesellschaft auch heißen mochten. Die Schneekönigin würde sie alle vernichten, weil sie eine freie Welt mit den Menschen für unmöglich hielt.
Nachdenklich schaute Grim zu den Fenstern hinauf, deren Lichter immer wieder anfingen zu flackern, und hörte die Stimme der Königin in seinem Kopf widerhallen.
Die Menschen ... Sie sind es nicht wert.
Und hatte sie da wirklich unrecht? Grim fuhr sich mit der Klaue an die Brust. Dieser Gedanke, dieser Zweifel schien ihm einen Stachel ins Herz zu treiben, einen hartnäckigen Splitter, der wie Mias Scherbe immer tiefer in sein Fleisch drang, je länger er ihn in seinem Kopf duldete, und der gleichzeitig mit eiskaltem Flüstern die Dunkelheit der Kluft in seiner Brust zum Schweigen brachte.
Das Geräusch von schnellen Schritten auf Pflastersteinen ließ ihn aufsehen. Cecile Lavie, Mias Mutter, kam die Rue des Innocents entlang, dicht gefolgt von Josi und Vraternius. Sie trugen allerhand Gepäck, und Grim entdeckte Falifar auf Josis Schulter, der von Weitem eine verteufelte Ähnlichkeit mit einem ungewöhnlich hässlichen Kanarienvogel hatte. Grim erhob sich und konnte fast die Steine hören, die Mia vom Herzen fielen, als sie ihre Familie kommen sah. Sie umarmte ihre Mutter und Josi und lächelte Vraternius dankbar an.
»Seid ihr problemlos hergekommen?«, fragte sie leise, aber ihre Stimme hallte dennoch über den Platz und ließ Remis zusammenzucken.
»Ab und zu haben wir ein Grollen gehört«, erwiderte Cecile fast flüsternd. »Wie von einem Ungeheuer oder ...« Sie hielt inne, als fürchtete sie, jeden Augenblick einen Dämon aus den dunklen Straßenzügen auftauchen zu sehen.
Grim lächelte ein wenig, als er die Neuankömmlinge begrüßte. »Es ist gut, dass ihr Vraternius in die Unterwelt folgt. Bei ihm in Ghrogonia werdet ihr sicher sein, bis euch durch die Feen keine Gefahr mehr droht.«
Josi nickte nachdenklich. »Ein Leben im Verborgenen«, murmelte sie. »Ein Leben im Geheimen, um nicht verraten zu werden. Ein Leben in relativer Sicherheit, während die Menschen an der Oberwelt mit jeder Minute, die vergeht, ihrer Vernichtung näher kommen. Die Feen werden keine Gnade zeigen, nicht wahr?«
Grim legte ihr die Hand auf die Schulter und schickte einen Strom aus Wärme in ihren Körper, der sie lächeln ließ. »Das müssen sie auch nicht, denn so weit werden wir es nicht kommen lassen. Wir werden sie aufhalten. Und ehe ihr eure Sachen in Vraternius' Bruchbude ausgepackt habt, könnt ihr schon zurückkehren in die Oberwelt, da bin ich mir sicher.«
Der letzte Satz war eine Lüge, und Josi wusste das, denn sie lächelte gutmütig und strich ihm flüchtig über die Wange. Sie hatte Grim vom ersten Augenblick an gemocht, da Mia ihn ihr vorgestellt hatte, und diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch Cecile war Grim in der Zeit, da sie sich kannten, ans Herz gewachsen. Er mochte ihre liebevolle, sanfte Art und den entschlossenen Ausdruck, den ihre Augen annahmen, wenn sie für eine gerechte Sache eintrat. Diesen Ausdruck hatte auch Mia in ihrem Blick.
»Vraternius wird auf euch aufpassen«, sagte Mia und umarmte ihre Mutter und Josi ein letztes Mal.
Der Gnom nickte überzeugend. »Darauf könnt ihr euch verlassen. Und auch wenn einige hier wahre Gemütlichkeit mit einem unpassenden Ausdruck wie Bruchbude bezeichnen, wird es euch bei mir gut gehen, das verspreche ich.«
Grim grinste über den Seitenblick des Gnoms und sah zu, wie dieser drei kleine Schnapsbecher aus der Jackentasche zog. »Alle Welt denkt, dass wir Gnome kein Benehmen hätten«, murmelte er, während er sie mit Brunnenwasser füllte, einen Zauber über ihnen sprach und jeweils einen Josi und Cecile reichte. »Aber ganz so ist es nicht. Und wenn man schon magisches Wasser mit Algengeschmack trinken muss, dann doch wenigstens aus vornehmen Bechern. Ein Schluck genügt! Ich warte drüben auf euch.«
Damit trank er seinen Becher in einem Zug leer — und verschwand. Mia lachte leise, als Cecile erstaunt die Hand an der Stelle durch die Luft zog, an der Vraternius gerade noch gestanden
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